ärgerliche nachrichten ...

Quassel, Quatsch und Diskurs abseits der Musik
Antworten
Benutzeravatar
Nukkumatti
Beiträge: 3956
Registriert: 26 Jul 2006, 06:24
Kontaktdaten:

Beitrag von Nukkumatti »

wieder mal eine ausgezeichnete analyse von gudrun harrer:


Chronik eines doppelten Scheiterns

Planloses Fuhrwerken als Strategie: Wie die britische Irakpolitik 2007 einer Politik ähnelt, die schon 80 Jahre zuvor betrieben wurde


Die Briten hatten mir das Recht eingeräumt, die Residenz des Botschafters zu benützen für meine Treffen der EU-Missionschefs. Das Haus, das früher eine Verwandte Saddam Husseins bewohnt hatte, war eines der etwas weniger hässlichen unter den Produkten der spießig-protzigen Regimearchitektur im Viertel rund um den Republikanischen Palast, in dem jetzt die Amerikaner hausten. In einer Ecke stand noch ein thronähnlicher Sessel, auch ein Tischaufsatz war übrig geblieben, ein riesiger, geschmackloser goldener oder vergoldeter Tiger.

Sonst war die Residenz von den Briten möbliert, auch Möbel aus der alten Residenz aus dem Teil Bagdads, der nun zur „roten Zone“ gehörte, waren hingeschafft worden. Unter anderem der Tisch, auf dem, so wurde mir gesagt, „Gertrude Bell die Grenzen des Irak gezogen hat“. Ich habe an ihm einmal ein mit Haggis gefülltes Lamm gegessen, der Botschafter war Schotte.

Ich hätte gerne das Grab Gertrude Bells, der mächtigen britischen „Orient-Sekretärin“ in den 1920er-Jahren, auf dem British Cemetery in Bab al-Sharji besucht, aber ich versuchte es nicht einmal: Das eigene Leben und das von Leibwächtern zu riskieren für einen exzentrischen Ausflug schien mir nicht angebracht, abgesehen davon, dass er mir wohl ohnehin verweigert worden wäre.

Wenige Tage, nachdem ich Bagdad nach einem halben Jahr wieder verlassen hatte, jährte sich am 12. Juli 2006 Bells Selbstmord in Bagdad zum 80. Mal. Die 58-Jährige hatte, krank, erschöpft und depressiv wie sie war, Schlaftabletten genommen. 80 Jahre später, Mitte Juli 2006, erlebte Bagdad gerade einen kurzfristigen Rückgang der „hostile incidents“, der feindlichen Vorfälle, die aber Anfang August schon wieder auf mehr als zwanzig täglich anstiegen, bei etwa 120 im gesamten Irak, die meisten davon im Zentrum des Landes.

Bilder vom Mob

Im Süden, in Basra, war es vergleichsweise ruhig, aber die Zeichen der konstanten Verschlechterung hatten uns über Monate hin begleitet. Das Klischee von den Briten, die alles viel besser machten als die Amerikaner, weil sie den Irak ja „kannten“, erlitt in dieser Zeit böse Beschädigungen: Bestürzt verfolgten wir in der britischen Kantine in Bagdad die Bilder vom Mob, der in Basra die Leichen von britischen Soldaten aus einem abgeschossenen Hubschrauber zerrte, hörten dem britischen Botschafter zu, als er seiner Belegschaft den Tod zweier Iraker mitteilte, die ermordet worden waren, weil sie für die Briten arbeiteten.

Unser zuvor weitgehend „gelsenfreies“ – wie wir die Abwesenheit von Steilfeuerangriffen nannten – britisches Compound (wo ich wohnte) war plötzlich Zielscheibe: Meinen die wirklich uns, fragten wir nach dem ersten Beschuss, oder war es eine verirrte Rakete, die den Amerikanern gegolten hat? Sie meinten uns, das heißt: die Briten. In Basra wurde es im Lauf der Zeit arg, dort wurde der „Palace“, in dem die Briten saßen, hunderte Male pro Monat mit Raketen und Mörsern beschossen.

Im Dezember 2007 ist der britische Außenminister David Miliband „hoch erfreut“ darüber, dass die irakische Regierung die Sicherheitsagenden für die Provinz Basra übernehmen wird, und „gratuliert allen, die dabei mitgeholfen haben, das zu erreichen“. Ein Unterhausausschuss macht den Spielverderber und stellt in einem Bericht fest: „Das Ausgangsziel der britischen Streitkräfte im Südostirak war, die für eine Entwicklung von repräsentativen politischen Institutionen und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nötige Sicherheit zu schaffen. Obwohl es Fortschritte gibt, bleibt dieses Ziel unerfüllt.“

Kritische Beobachter meinen zudem, die zuletzt konstatierte Verbesserung der Sicherheitslage in Basra komme daher, dass sich die Milizen des Schiitenführers Muktada al-Sadr gegen die anderen durchgesetzt, auf ihre Art Basra „befriedet“ haben. In den vergangenen Monaten wurden vierzig Leichen von Frauen gefunden, auf die Straßen geworfen und mit Zetteln versehen, auf denen sie des Ehebruchs oder anderer Ehrvergehen beschuldigt wurden. Die Angehörigen beanspruchen ihre Toten oft nicht, aus Angst. Aber es ist jetzt ruhiger, das stimmt.

Im Frühjahr 2008 wird die britische Armee im Irak auf ein Minimum reduziert sein, fünf Jahre nach ihrem Einmarsch. Am 21. März 2003, zwei Tage nach Kriegsbeginn, hatten amerikanische und britische Truppen Basra erreicht. Gegen die allgemeine Erwartung stießen sie auf beträchtlichen Widerstand. Erst am 6. April ist Basra unter Kontrolle, am 29. Mai besucht der britische Premier Tony Blair die Stadt.

Im Juni 2003 werden zum ersten Mal britische Polizisten angegriffen und getötet. Aber es dauert bis 2006, bis die Situation völlig abzurutschen droht. Die Briten sind plötzlich Kriegspartei, stehen zwischen Stämmen, Guerillas, Kriminellen und – oft nicht zu unterscheiden – Elementen der irakischen Verwaltung und der Sicherheitskräfte, die auch untereinander konkurrieren. Im Dezember 2006 stürmen tausend britische Soldaten das Hauptquartier der irakischen Polizei, befreien 127 Gefangene und retten ihnen damit wahrscheinlich das Leben. Die Situation wird unhaltbar, im August 2007 beginnt der Auszug der Briten aus Basra auf ihren Luftwaffenstützpunkt außerhalb der Stadt.

Als im September 2007 der frü_here britische Generalstabschef Michael Jackson die US-Nachkriegspolitik im Irak als „intellektuell bankrott“ beschreibt, kommen die Retourkutschen: Die Briten seien im Irak gescheitert, sie säßen in Basra „wie in einer von Indianern umzingelten Wagenburg“ fest, höhnen die amerikanischen Medien. Den kuriosesten Satz zur Situation im Irak habe ich, die ich – siehe meinen Wunsch, ihr Grab zu besuchen – nicht völlig gegen Bell-Kitsch gefeit bin, im Juni 2007 im Spectrum der Presse gelesen. Es sehe nicht gut aus im Irak, schreibt da ein Wiener Historiker. „Zumal die sanfte und zugleich energische Hand einer fließend Arabisch sprechenden Gertrude Bell, der eigentlichen Mutter des Irak, fehlt.“ Sie hätte wohl laut gelacht.

Der Autor von The Prince of the Marshes (Der Prinz des Marschlandes), Rory Stewart, nach der Invasion 2003 als britischer Berater im Südirak tätig, schreibt in einem The Queen of the Quagmire (Die Königin des Morastes) betitelten Artikel in der New York Review of Books im Oktober über Bell, dass ihre größte Stärke in der Klarheit bestand, mit der sie das britische Scheitern im Irak analysierte: „Wir sind da hineingestolpert, wie üblich bei uns ohne einen umfassenden politischen Plan (...) Wenn Leute davon reden, dass wir uns durchwursteln, bekomme ich einen Anfall. Durchwursteln! Ja, das tun wir – dabei waten wir durch Blut und Tränen, die nie vergossen werden hätten müssen.“

Bell, die zuerst als „Political Officer“ den britischen Okkupationstruppen in den Irak folgte, später zur hohen Position des „Oriental Secretary to the Civil Commissioner“ in Bagdad aufstieg, sah zwar scharf, aber auch durch die damals offenbar unvermeidlich orientalistische Brille (die jedoch auch so manchem ihrer westlichen Berufskollegen nach 2003 noch auf der Nase sitzt): Der Orientale sei „wie ein sehr altes Kind“, mit ganz eigenen Wünschen eben und nicht sehr rational. Ihr selbst wurde jedoch – als Frau – von ihren Kollegen, zum Beispiel von T. E. Lawrence, der als Lawrence of Arabia durchs westliche Bewusstsein galoppiert, ihre Emotionalität vorgeworfen, sie ändere ihre Ausrichtung „wie ein Wetterhahn“, sagte er, der ihr aber nicht übel gesonnen war.

Ihr Diplomatenkollege Sir Mark Sykes – der mit dem Franzosen George Picot 1916 die künftige Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich festschrieb, nur ein Jahr, nachdem die Briten den Arabern für ihren Aufstand gegen die Osmanen die Unabhängigkeit versprochen hatten – hatte eine andere Beschreibung parat: Sie sei ein „flachbrüstiges globetrottendes Mannweib, eine steißwackelnde, schwatzende blöde Kuh“. Auch Ibn Saud (Abdul Aziz Al Saud), der spätere König von Saudi-Arabien, konnte sie offenbar nicht leiden und unterhielt seine Zuhörer mit schrillen Bell-Parodien.

Einen Restposten dieser britisch-französischen Nahostpolitik, Faisal, machte Bell 1921 zum irakischen König, das kann man schon so sagen. Faisal war einer der Söhne des haschemitischen Sharifen von Mekka, den der oben erwähnte Ibn Saud 1926 aus dem Hijaz vertrieb. Faisal war mit Lawrence in Damaskus eingezogen und von dort wieder verjagt worden, weil er sich als König weigerte, das französische Mandat formell anzuerkennen. Als ihm die Briten die irakische Krone anboten, hatte Faisal die Lektion gelernt: Auch inklusive britischem Mandat nahm er sie, unter der etwas koketten Bedingung, dass die Iraker ihn denn auch wirklich wollten.

Schonungslose Analyse

Dafür sorgte Bell: Faisals Fahrt von Basra nach Bagdad wurde zwar nicht zum Triumphzug, aber 96 Prozent Zustimmung brachte das „wohlorganisierte Plebiszit“ danach, wie das der britische Historiker Toby Dodge in Inventing Iraq (Die Erfindung des Irak) nennt, einer schonungslosen Analyse der britischen Präsenz im Irak während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das Buch hat den Untertitel The Failure of Nation Building and a History Denied (Das Scheitern der Nationsbildung und eine verleugnete Geschichte). Dodge zieht auch Vergleiche, nicht so sehr mit der britischen Politik im heutigen Irak – dazu ist sie nicht gewichtig genug –, sondern mit der amerikanischen.

Die Briten waren Ende 1914 in Basra und auf der strategisch wichtigen Halbinsel Faw einmarschiert, als klar wurde, dass das Osmanische Reich auf Seite der Zentralmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eintreten würde. Erst im März 1917 zogen die Briten – genauer gesagt die Mesopotamian Expeditionary Force (MEF) – in Bagdad ein, dazwischen lag die fürchterliche Belagerung und Niederlage von Kut (wo die Briten im Mai 2003 den britischen Militärfriedhof wieder freilegten).

Der „Eroberer“ von Bagdad war General Stanley Maude: 2003 wurde das britische Hauptquartier in der Grünen Zone in Bagdad nach ihm „Maude House“ genannt, da kennen sie nichts, die Briten. Maude starb noch im November 1917 auf dem Vormarsch nach Ramadi und Tikrit an Cholera. 90 Jahre später, im Dezember 2007, wütet im Irak wieder die Cholera. Von den 34.000 Ärzten, die es 2003 im Land gab, sind 2000 ermordet worden und 12.000 ins Ausland geflüchtet. 70 Prozent der Iraker sind ohne adäquate Wasserversorgung, 28 Prozent der Kinder (2003 waren es 19 Prozent) sind unterernährt, da hat die Krankheit leichtes Spiel. Die WHO spricht von 3300 schweren und 33.000 leichteren Fällen.

Aber zurück, Maude hatte nach seinem Einzug in Bagdad eine Proklamation veröffentlichen lassen, in der er den Irakern mitteilte, dass die Briten „nicht als Eroberer und Feinde, sondern als Befreier“ von den Osmanen gekommen waren: „O Volk von Bagdad, denk daran, dass du seit 26 Generationen unter fremden Tyrannen gelitten hast, die immer danach getrachtet haben, ein arabisches Haus gegen das andere zu hetzen, um von eurer Uneinigkeit zu profitieren. Diese Politik ist Großbritannien und seinen Alliierten verhasst ... ” Zu dieser Zeit hatte London die 1914 kurz aufflackernde Idee einer Annexion des Irak längst ad acta gelegt, man stand aber immer noch bei „white man’s burden“, bei der Bürde des weißen Mannes, der Direktherrschaft. Und – ganz wie im Jahr 2003 von den USA – alles, was von den früheren Besatzern übrig war, musste zerschlagen werden, die Verwaltung, die Gesetze, die Wirtschaft. Vorbild für den neuen Irak war die britische Verwaltung in Indien, kurzfristig wurde die indische Rupie sogar zur geltenden Währung.

Es funktionierte nicht recht. Welche Enttäuschung. In ihrer bemerkenswerten Review of the Civil Administration in Mesopotamia, einem Zustandsbericht der britischen Verwaltung, den Rory Stewart mit der Berichterstattung von US-General David Petraeus und US-Botschafter Ryan Crocker 2007 in Washington vergleicht, schreibt Gertrude Bell (die allerdings auch die Briten nicht von der Kritik ausnimmt): „Es hat länger gedauert als angenommen, einige der Schulen in Bagdad wieder zu eröffnen. Die Verspätung ist den Leuten hier selbst zuzuschreiben, die die Möbel und die Ausstattung der Schulen plünderten und Türen, Fenster und alles, was man nur abmontieren konnte, davontrugen.“

1920 wird die Politik des für den Irak zuständigen britischen India Office durch den Ausbruch des Aufstandes diskreditiert. Wie alle späteren irakischen Aufstände im 20. Jahrhundert auch, bleibt die „arabische Revolte“ jedoch unorganisiert, disparat, lokalisiert, bringt aber doch zum ersten Mal, wenn auch nur für kurze Zeit, Sunniten und Schiiten und andere Fraktionen der irakischen Gesellschaft zusammen – ein erster Schritt zu einer irakischen Nation.

„Nicht ewig Weltpolizist“

Die Briten kostet die Revolte 400 Tote und 40 Millionen Pfund. Sie werden ihrer nur mit einem massiven Einsatz von Kampfflugzeugen, inklusive Giftgasangriffen, gegen die Aufständischen Herr. Die Kritik zuhause in London an der Irak-Politik wird lauter, man könne doch nicht ewig „den Weltpolizisten spielen“. Die Opposition spricht von „imperialistischer Überdehnung“.

Ein Staat muss her und ein König. Bell setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass zu den ehemaligen osmanischen Provinzen Basra und Bagdad auch das Vilayet Mossul zum Irak kommt, hauptsächlich aus demographischen Gründen: Sie setzt auf die Sunniten, die ihr, obwohl in der Minderheit, als die „natürlichen Herrscher“ des Irak erscheinen, und mit Mossul wird dem Irak eine schöne Portion Sunniten einverleibt (sie erlebt es noch: Der Völkerbund schlägt Mossul dem Irak 1925 definitiv zu).

Über Bells Vorurteile gegen die Schiiten lässt sich lange diskutieren: Liora Lukitz arbeitet in ihrer neuen Bell-Biographie A Quest in the Middle East – Gertrude Bell and the Making of Iraq (Ein Streben im Nahen Osten – Gertrude Bell und die Erschaffung des Irak) ganz gut heraus, dass es Bells Wut auf die „Mujtahidun“ ist, die schiitischen Rechtsgelehrten, die den neuen Staat und seine Führung ablehnen, weil er über die Köpfe des Klerus hinweg geschaffen wurde. Bell will die schiitischen Stammesführer von ihrer Furcht vor diesen „Teufeln“, wie sie sagt, befreien. Faisal lässt etliche von ihnen in den Iran deportieren, ein historisches Beispiel, auf das später Saddam Hussein zurückgreifen wird, allerdings deportiert er gleich Zehntausende.

Zweifellos ist Bell von den sunnitischen Stereotypen über die Schiiten beeinflusst, die man auch heute hört, sunnitische Ordnung gegen schiitisches Chaos, lieber 60 Jahre Tyrannei als einen Tag Aufruhr, wie sollen diejenigen ein Land regieren können, deren Führer – der zwölfte Imam, der Mahdi – sich dadurch auszeichnet, dass er seit dem 9. Jahrhundert verschwunden ist und seine Gemeinde verwaist hinterlässt?

Die Briten wollen Führer, mit denen sie reden können. In einer völligen Reversion der osmanischen Stammespolitik, die die tribalen Systeme dem staatlichen zu unterwerfen suchte, übertragen sie kooperationswilligen sunnitischen Stammesscheichs immer mehr Verantwortung und Gewalten. Das ist übrigens auch billiger als das teure britische Personal. Und es passt mit Bells (und anderer) Sicht des Orients zusammen: In einer ruralen, vormodernen Gesellschaft braucht es einen Mediator zwischen Staat und Bevölkerung, den starken Stammesscheich, der aus einer „sauberen“ arabischen Gesellschaft kommt, nicht aus den korrupten Städten mit ihren verweichlichten Bürgern.

Diese Intellektuellenfeindlichkeit wird weitreichende Folgen für die Entwicklung der irakischen Gesellschaft haben, die städtischen Eliten, mögliche Träger der Moderne, werden marginalisiert. Um den Stammeschef an den Staat zu binden, ist dann auch Rücksicht zu nehmen auf „tribale Gefühle“, und diese Rücksicht drückt sich in der von den Briten 1918 abgesegneten Tribal Criminal and Civil Disputes Regulation (etwa: Rechtsvorschrift zur Regelung von straf- und zivilrechtlichen Streitfällen bei Stämmen) aus, was nichts anderes heißt, als dass für die Stämme – und da kann man nicht einfach austreten – andere Gesetze gelten als im irakischen Recht.

Saddam Hussein macht nach dem Golfkrieg 1991, als es ihm Staat, Partei und Familie nach und nach zerbröselt, etwas ganz Ähnliches wie die Briten: Er überträgt den Stammeschefs wieder die Judikatur in gewissen Bereichen. In Familienangelegenheiten werden wir doch keinen Richter brauchen! Und sie bekommen Geld, Waffen und Land.

Alles war schon einmal da. Aus Bagdad schreibt ein Freund, dem ich meine Bedenken über die neue US-Politik der Aufrüstung von Stammeschefs mitteile: „Unsere Gäste (er meint die Amerikaner) werden sehr nervös, wenn jemand ihre Intention in Frage stellt oder das Programm (die Bewaffnung von Stammesmilizen) gar kritisiert.“ Längst sind bei den Schiiten Verschwörungstheorien unterwegs, die in der amerikanischen Politik die Aufrüstung der Sunniten für einen künftigen Bürgerkrieg – nach dem Abzug der Amerikaner – sehen. Als Kenner der Verhältnisse tendiert man eher dazu, als erstes Motiv der Amerikaner Verzweiflung anzunehmen. Und angesichts der Resultate – ist die Gewalt nicht im Sinken? – kommt dann wieder die Einstellung, ja doch Recht gehabt zu haben.

Faisal, Gertrude Bells König, hat die Unabhängigkeit des Irak 1932 noch erlebt (er starb 1933). Toby _Dodge konstatiert, dass die Briten damals eine Aufnahme des Irak in den Völkerbund durchsetzten – um das Mandat für ihn loszuwerden –, obwohl sie sehr gut wussten, dass der Staat nicht auf eigenen Beinen stehen konnte. Wenn die Briten heute unter Gratulationen aus Basra abziehen, ist es nicht viel anders, aber es gibt auch keine Völkerbundmandate mehr. Klar ist, dass in den fünf Nachkriegsjahren auch im Süden des Irak keine Institutionen geschaffen werden konnten, die als Rückgrat für eine effiziente, rechtsstaatliche Verwaltung dienen könnten – und dabei reden alle von Föderalismus. Der Süden hat eine realistische Chance verpasst, der böse sunnitische Aufstand fand ja woanders statt.

Würdige Nachfahren der Gertrude Bell – im Sinn, dass sie das, was geschehen ist, als das bezeichnen, was es ist, nämlich als Scheitern – gibt es auch. Dass die britische Regierung die Veröffentlichung der Memoiren von Sir Jeremy Greenstock, des ersten britischen Sondergesandten im Irak nach dem Fall Saddam Husseins, verhindert hat, zeigt, dass auch London „sehr nervös“ ist. (DER STANDARD, ALBUM, 15./16.12.2007)

http://derstandard.at/?id=3151771
Benutzeravatar
Nukkumatti
Beiträge: 3956
Registriert: 26 Jul 2006, 06:24
Kontaktdaten:

Beitrag von Nukkumatti »

Wien - Jingle sells - doch nicht nur zur Weihnachtszeit sind viele Österreicher im Kaufrausch. Fast schon die Hälfte der Bevölkerung ist potenziell shoppingsüchtig. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Arbeiterkammer (AK), die Freitag präsentiert wurde.

Im vergangenen Jahr waren 32 Prozent kaufsuchtgefährdet, dieses Jahr stieg die Anzahl auf 42 Prozent. Insgesamt sind 8,7 Prozent der Befragten stark, 32,9 Prozent deutlich gefährdet. Befragt wurden 1000 Österreicher ab 14 Jahren. \"Eine besonders deutliche Steigerung hat es bei den 25- bis 44-Jährigen gegeben\", sagte Karl Kollmann vom AK-Konsumentenschutz. Gegenüber dem Vorjahreswert von 34 Prozent sind 46 Prozent als kaufsuchtgefährdet eingestuft.

60 Prozent sind Frauen

Während soziodemografische Werte wie Einkommen oder soziale Schicht keine Rolle spielen, tritt der Geschlechterunterschied umso deutlicher in den Vordergrund: 60 Prozent aller Kaufsuchtgefährdeten sind Frauen, besonders betroffen ist die Altersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren. Hier sind bereits 50,4 Prozent deutlich gefährdet.

Österreich stehe mit diesen Werten im internationalen Spitzenfeld, auch zum Beispiel vor der Schweiz und Deutschland, erklärte Studienautor und Leiter des Anton-Proksch-Instituts Wien, Michael Musalek. Wichtig sei zu erkennen, dass es sich bei akuter Kaufsucht um eine schwere Erkrankung handle, die oft zusammen mit Depression oder Angstzuständen einhergehe.

Nicht ausgepackt

\"Das Entscheidende ist nicht, dass jemand gerne einkauft, sondern dass das Kaufen selbst das Ziel ist.\" Kaufsüchtige würden die Produkte gar nicht mehr auspacken, sondern daheim horten. Ähnlich wie bei der Alkoholsucht käme auch die Kaufsucht schleichend. Die Gründe für die Shoppingsucht sind vielfältig. \"Kaufen dient etwa als Ersatz bei Einsamkeit oder als Belohnung nach Stress und Arbeitsleid\", so Kollmann.

Die Studie sieht auch einen Zusammenhang zwischen Internetnutzung und Kaufsucht. \"Vor allem die Jungen wachsen mit Internet und bargeldlosem Zahlungsverkehr auf und kaufen dann relativ ungehemmt ein\", berichtete Kollmann. Einen großen Teil der Ursache sehen die Studienautoren auch beim steigenden Konsumdruck, den fast drei Viertel der Österreicher als zu stark empfinden. (APA, simo, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23.12.2007)
Benutzeravatar
Nukkumatti
Beiträge: 3956
Registriert: 26 Jul 2006, 06:24
Kontaktdaten:

Beitrag von Nukkumatti »

Coca-Cola im Kopf
Die unheimliche Indienstnahme der Neurowissenschaft
durch das Marketing
von Marie Bénilde

Im Oktober 1919 soll Lenin dem russischen Nobelpreisträger Iwan Pawlow einen Besuch abgestattet haben. Der Legende nach wollte er herausfinden, was die Arbeiten des großen Physiologen und Mediziners zum Projekt des \"neuen Menschen\" beitragen könnten, den die Bolschewiki damals erschaffen wollten. Der Wissenschaftler wäre der Propaganda des Regimes womöglich dienlich gewesen, wenn er die Verbindung von äußeren Reizen zu den Mechanismen der kollektiven Transformation hätte aufzeigen können.

Tatsächlich war Pawlow den Bolschewiki keine Hilfe, aber die Begebenheit - ob sie sich nun wirklich zugetragen hat oder nicht - veranschaulicht eine das 20. Jahrhundert beherrschende Wahnvorstellung: die Möglichkeit der Kontrolle des Verstandes durch die Manipulation des Unbewussten. Demnach müsste eine wirkungsvolle Propaganda von der Annahme ausgehen, dass eine Botschaft umso besser verarbeitet wird, je besser die Psyche ihres Empfängers darauf konditioniert ist, sie aufzunehmen - und sich zu eigen zu machen.

Die Erforschung des Gehirns zu kommerziellen Zwecken und der dadurch möglichen Manipulation der Massen zeigt, dass auch die modernen westlichen Konsumgesellschaften von propagandistischen Methoden nicht allzu weit entfernt sind. Patrick Le Lay etwa, Chef des französischen Fernsehsenders TF 1, hat 2004 zugestanden, dass sein Sender bestrebt sei, Coca-Cola etwas von \"der Zeit des verfügbaren menschlichen Gehirns\" zu verkaufen.

Im Sommer 2003 konnte ein Neurologe des Baylor College of Medicine in Houston, Read Montague, nachweisen, dass Testtrinker, die im Blindtest das Konkurrenzprodukt der Marke Pepsi vorzogen, sich anders entschieden, sobald sie das Getränk als Coca-Cola identifizieren konnten. Die Teilnehmer des Versuchs erklärten dann, die Limonade mit dem rot-weißen Schriftzug würde ihnen besser schmecken.

Damit war erwiesen, was die Überlegenheit der Marke ausmacht, die als ein As des Branding gilt. Diese Marketingstrategie zielt darauf ab, das Logo eines Produkts möglichst oft und auf möglichst vielen Trägern zu reproduzieren und es auch in bestimmte mediale Inhalte einzufügen. Um die Verbindung zwischen dem Bild der Marke und der Reizwirkung auf das Gehirn nachzuweisen, hatte Montague auf die Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, das bis dahin vor allem zu medizinischen Zwecken verwendet wurde. Bei der Beobachtung der Gehirntätigkeit seiner Probanden stellte der Wissenschaftler fest, dass die Hirnregion, die beim Anblick einer Marke angeregt wird (der mediale präfrontale Cortex), auch das Gedächtnis anspricht und bei kognitiven Prozessen eine wichtige Rolle spielt. Bei den Blindtests mit Coca-Cola hingegen wurde auch die Hirnregion einbezogen, die \"ventrale Putamen\" heißt und mit dem Genussempfinden verbunden ist. Im April 2004 führte dann die medizinische Fakultät von Baylor in Houston das erste weltweite Symposium durch, bei dem es ausschließlich darum ging, wie sich die neuronale Bildgebung zu Marketingzwecken einsetzen lässt.

Drei Jahre zuvor rief in Atlanta, dem Hauptsitz der Coca-Cola Company, das von Werbefachmann Joey Reiman gegründete Brighthouse Institut eine Sachverständigengruppe ins Leben, die sich mit der Nutzung der aus den Neurowissenschaften gewonnenen Erkenntnisse für das Marketing befassen sollte. Ihr wissenschaftlicher Leiter Clint Kilts kam zu den gleichen Ergebnissen wie zuvor sein Kollege in Houston: Auch er machte den medialen präfrontalen Cortex als den auf die Bilder der Werbung ansprechenden Bereich des Gehirns aus. Er stellte aber auch fest, dass die entsprechende Reaktion umso stärker ist, je mehr sich die Versuchsperson mit dem Bild des Produkts identifiziert.(1)

In der Tat ist die für das Neuromarketing interessante Hirnregion eng mit unserem Selbstbild verbunden. Wie Annette Schäfer in der französischen Fachzeitschrift Cerveau & Psycho ausführt, \"haben wir hier also den Motor des Kommerzes. Der mediale präfrontale Cortex lässt uns mögen, was die anderen mögen. Seine Stimulierung könnte demnach ein wesentliches Ziel einer perfekten Werbekampagne sein.\"(2)

Nach Einschätzung von Olivier Oullier, einem Neurowissenschaftler an der Florida Atlantic University, wenden derzeit etwa hundert Unternehmen in der Welt die Methoden des Neuromarketing an.(3) Über die durchgeführten Experimente halten sie sich jedoch lieber bedeckt. Eine der Firmen, damals noch DaimlerChrysler, hat 2003 beispielsweise das Krankenhaus in Ulm damit betraut, die Gehirne von Männern zu scannen, während Bilder von Luxusautos an ihren Augen vorüberzogen.

Auf diese Weise kam die Bedeutung des im basalen Vorderhirn gelegenen Nucleus accumbens zum Vorschein. Dieser spielt sowohl im Belohnungssystem des Gehirns als auch bei der Entstehung von Sucht eine herausragende Rolle. Bei den Ulmer Versuchen stellte sich heraus, dass das Konsumobjekt durch einen Prozess der Personifizierung zu so etwas wie einem Objekt der Begierde werden kann. Werbefachleute fanden darin eine lang gehegte Ahnung bestätigt: Werbespots sollten die Wechselbeziehung zwischen sexuellem Begehren und Kauflust verstärken. \"Der Konsument muss die Marke fühlen können, sie wie ein Liebhaber anfassen wollen\", bestätigt Kevin Roberts, Geschäftsführer bei Saatchi & Saatchi - und lächelt nicht dabei.(4)

Im Neuromarketing finden drei Interessen zueinander: Leute aus der Industrie wollen der eigenen Firma gegenüber Ausgaben für Werbung und Kommunikation legitimieren, Werbeagenturen wollen ihre Arbeit aufgewertet sehen, und die großen Medien wollen der wachsenden Bedeutung neuer Kommunikationswege etwas entgegensetzen.

Bruno Poyet, Mitbegründer der auf die Nutzung \"bildgebender Verfahren\" spezialisierten Forschungseinrichtung Impact Mémoire, betonte bei einer \"Woche der Werbung\" im November 2003, wie wichtig die Aufmerksamkeit und die an sie geknüpfte Emotion für die Erinnerungsleistung des menschlichen Gehirns sei.(5)

Einen derartigen \"emotionalen\" Kontext, der die unter fünfzigjährigen Hausfrauen anspricht, versucht TF 1 in seinem Programm herzustellen. Ebenfalls 2003 pries der Sender in den einschlägigen Publikationen seine Werbestrecken an. Auf den Anzeigen war ein von einem Videoband umwickeltes Gehirn abgebildet, dazu der Satz: \"Mit einem im Programm von TF 1 platzierten Werbespot erreichen Sie 23 Prozent mehr Speicherung im Gedächtnis der Zuschauer.\"

Wie der Neurologe Bernard Croisile, ebenfalls Mitbegründer von Impact Mémoire, festhält, \"prägen sich positive Inhalte besser ein, wenn man in einer positiven emotionalen Verfassung ist, während umgekehrt depressiv gestimmte Menschen negative Informationen besser behalten\".(6) Folglich kommt es darauf an, dem Zuschauer vor einer Unterhaltungssendung oder nach der nüchternen Berichterstattung eines Politjournals seine Dosis angenehmer Emotionen zu verabreichen und ihm das eher deprimierende Format der kritischen Abhandlung zu ersparen.

Im März 2007 startete der internationale Werberiese Omnicom in Frankreich die Medienberatungsagentur PHD. Dieses internationale Beraternetz arbeitet mit einer Software für \"Neuroplanning\", die auf Grundlage von Versuchen mit MRT entwickelt wurde und den Herstellern von Markenprodukten zeigen soll, welche Hirnregion in Anbetracht der jeweiligen Kampagnenziele und der eingesetzten Medien angesprochen werden sollten.

Im selben Jahr erhielt Impact Mémoire einen Auftrag von der Werbeleitung der Unternehmensgruppe Lagardère: Deren Inserenten sollte durch die Kombination verschiedener Medien und durch die Wiederholung der Werbebotschaften zu einer optimierten Speicherung ihrer Kampagnen in den Köpfen verholfen werden.

Die genaue Kenntnis der Abläufe in den Konsumentenköpfen verführt Unternehmen und ihre Werbestrategen natürlich dazu, die der Kommunikation zugewiesenen Grenzen zu sprengen. Schließlich wird allgemein davon ausgegangen, dass die Bereitschaft, ein Markenimage in sich aufzunehmen, besonders hoch ist, wenn die \"Zielscheibe\" nicht weiß, dass sie Zielscheibe ist. Das erklärt den Aufschwung des \"Advertainment\", dieser hybriden Kreuzung aus Werbung und Unterhaltung - jüngstes Beispiel: das Spiel Frankreich gegen Argentinien bei der Rugby-Weltmeisterschaft im Stadion von Paris. Die Kameras von TF 1 sahen zu, wie junge Mannequins in Unterwäsche auf den Rängen zu tanzen begannen: Es handelte sich um eine Inszenierung der Werbeagentur Fred-Farid Lambert für die französische Wäschemarke Dim.

Auch in den audiovisuellen Medien treibt das Productplacement Blüten, wie globale Verträge bezeugen, die Produzenten, Vertreiber und Inserenten miteinander verbinden. 2001 hat der Waschmittelkonzern Procter & Gamble einen 500-Millionen-Dollar-Vertrag mit dem US-Medienkonzern Viacom und deren Sender CBS geschlossen, um seine Produkte in den Drehbüchern unterzubringen. Vier Jahre später investierte Volkswagen 200 Millionen Dollar, um seine Autos in den Filmen von Universal und dem zugehörigen Fernsehsender NBC zu platzieren.

Noch ist der oberste französische Fernseh- und Rundfunkrat angehalten, jegliche Schleichwerbung im Fernsehen zu unterbinden. Mit der für 2008 anvisierten Umsetzung der EU-Richtlinie \"Fernsehen ohne Grenzen\" in französisches Recht wird Productplacement auf den französischen Fernsehbildschirmen genauso erlaubt sein wie auf den amerikanischen. Bei der Gelegenheit wird wahrscheinlich auch die rund um die Uhr geltende Obergrenze von zwölf Werbeminuten pro Stunde dahingehend aufgeweicht werden, dass künftig während der Primetime mehr Werbung erlaubt sein wird. Natürlich zielen Fernsehprogramme nicht offen auf das Unterbewusstsein des Fernsehzuschauers. Aber hinter dem Fernsehzuschauer wird eben nach wie vor und jederzeit der Konsument ins Visier genommen.

Fußnoten:
(1) Siehe \"There\'s a Sucker Born in Every Medial Prefrontal Cortex\", \"The New York Times Magazine, 26. Oktober 2003.
(2) \"Vous avez dit neuromarketing?\", \"Cerveau & Psycho, Nr. 7, September-November 2004.
(3) Siehe \"Neuromarketing: les bases d\'une discipline nouvelle\", Journal du Net, 20. Februar 2007, www. journaldunet.com.
(4) \"Stratégies, 11. November 2004.
(5) Siehe www.aacc.fr.
(6) \"Stratégies, 7. Oktober 2004.

Aus dem Französischen von Marc Blankenburg
Marie Bénilde ist Journalistin und Autorin von \"On achète bien les cerveaux. La publicité et les médias\", Paris (Raisons d\'agir) 2007.

Le Monde diplomatique Nr. 8425 vom 9.11.2007, 292 Zeilen, Marie Bénilde

http://www.monde-diplomatique.de/pm/200 ... 058.idx,22
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

hätte da auch wieder mal eine:


Ein Schatz für Werbekunden

Von Götz Hamann

Die Internetseite StudiVZ verleitet zur Selbstentblößung. Genau darum ist Datenschutz so wichtig.

Wie viel Privatsphäre hat man noch in Zeiten des Internets? Die Frage stellt sich vehement, seit StudiVZ, ein sogenanntes Soziales Netzwerk, angekündigt hat, es werde künftig persönliche Daten seiner Nutzer vermarkten. StudiVZ hat sechs Millionen registrierte Nutzer, man könnte sagen, praktisch alle deutschen Schüler und Studenten sind dort angemeldet.

Als Erstes legen sie eine Art Lebenslauf und eine Liste ihrer Freunde an, die ebenfalls bei StudiVZ angemeldet sind. Im Folgenden nutzen sie das Netzwerk, um sich zu verabreden und Kontakte zu halten. Was noch vor einem Jahr kaum abzusehen war: Die Anziehungskraft von StudiVZ ist gigantisch geworden. Gut die Hälfte der registrierten Nutzer schaut jeden Tag vorbei, StudiVZ ist eines der meistbesuchten und sicher das am intensivsten genutzte Internetangebot in Deutschland geworden.

Der Geschäftsführer von StudiVZ, Marcus Riecke, sagt nun, die Firma wolle »Werbung anhand von Alter, Geschlecht, Studienfach und Studienort sortieren«. Nur diese vier Kategorien »lassen sich nach unserer Ansicht heute sinnvoll nutzen«. Das ist aber nur die eine Hälfte des eigentlichen Plans.

Ursprünglich wollte StudiVZ von seinen Nutzern auch die Erlaubnis, Werbung an die persönliche Handynummer zu schicken – sofern sie bei StudiVZ hinterlegt ist. Werbekunden hätten die Nutzer dann nicht nur erreicht, wenn sie im Internet auf StudiVZ unterwegs sind und sich wissentlich in einem von Werbung finanzierten Umfeld bewegen. Die Werbung hätte ihnen überallhin folgen können – per Handy. Doch das ist nach Protesten der Nutzer vom Tisch.

Vor gut einem Jahr hat die Verlagsgruppe Holtzbrinck (zu der auch die ZEIT gehört) die Internetfirma StudiVZ übernommen. Seither hat das Management versucht, den immensen Zuwachs an Mitgliedern zu bewältigen, jetzt erst bereitet man sich darauf vor, ein richtiges Geschäftsmodell zu entwickeln.

Grundsätzlich ist die Idee nicht neu, persönliche Daten für Werbung zu nutzen. Es ist sogar ein weitverbreitetes Phänomen. Jeder Katalogversender tut es von Otto bis Quelle, jede Kundenkarte beruht im Prinzip auf einem Tauschgeschäft: Rabatt gegen persönliche Daten, Name plus Adresse plus Konsumgewohnheiten. Der darauf aufbauende Adresshandel, bei dem Werbekunden ganze Zielgruppen anschreiben können, ohne dass sie die Namen der einzelnen Verbraucher erfahren, ist ein Milliardenmarkt. Wobei wichtig ist: Es werden keine kompletten Datensätze an Werbekunden weitergegeben. Genau das, hatten Kritiker vermutet, habe StudiVZ vor, was der Geschäftsführer verneint und in einer Mail an alle Mitglieder unterstreicht.

Insgesamt erntete StudiVZ scharfe Kritik für die Art, wie es die Änderung der Geschäftsbedingungen zunächst ankündigte. Unter den Kritikern war auch der oberste Datenschützer, Peter Schaar. Hinzu kommt etwas, das den Umgang mit persönlichen Daten bei StudiVZ besonders sensibel macht: Kundenkarten und Versandhandel kann man meiden, StudiVZ kaum noch. Wer nicht als Jugendlicher oder Student bei StudiVZ ist, läuft fast Gefahr, den Anschluss zu verpassen. Die Mitgliedschaft gehört in vielen Freundeskreisen zur sozialen Grundausstattung.

Diese Stellung bildet eine einmalige Ausgangsposition für ein Geschäftsmodell. Es führt allerdings auch dazu, dass sich das Management von StudiVZ fragen lassen muss, ob es angesichts seiner Bedeutung im Leben von Schülern und Studenten nicht jedem Einzelnen die Möglichkeit bieten sollte, aus der Vermarktung auszusteigen. Die Firma könnte problemlos eine Art interne »Robinson«-Liste erstellen. Das ist ein erprobtes Mittel in der Nicht-Internet-Welt. Verbraucher, die von Werbung verschont bleiben wollen, tragen sich dort ein. Firmen respektieren die Liste, und weil nur wenige Konsumenten auf Werbung verzichten möchten, tut es dem Geschäft keinen Abbruch.

Tatsächlich hat StudiVZ nun angekündigt, es werde die Möglichkeit geben, die Vermarktung zu verweigern. Man müsse erst zustimmen, könne später aber in seinem Online-Profil die Einwilligung rückgängig machen. Es ist, wenn man so will, eine versteckte Ausstiegsklausel.

Für eine offensiv beworbene Robinson-Liste spräche, dass wahrscheinlich nur wenige Nutzer von ihr Gebrauch machen würden. Die Kritik an der geplanten Vermarktung war groß, aber letztlich von einer geringen Minderheit der Mitglieder getragen. Die meisten hatten ja auch bisher kein Problem damit, sich umfassend zu entblößen. Insofern würden sie wohl Geschäftsführer Riecke zustimmen, der sagt: »Wenn wir Werbung genauer zuordnen können, hat auch der Nutzer etwas davon. Er bekommt nicht mehr so viel irrelevante Werbung, sondern solche, die ihm eher entspricht. Die ihn vielleicht sogar interessiert.« Gleichzeitig würde eine interne Robinson-Liste den Ruf der Firma mehren.

Wie sehr der Ruf des Unternehmens von seiner Haltung zum Datenschutz abhängt, bekam StudiVZ gerade zu spüren. Die Kritik an den neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen entzündete sich auch daran, dass sie sich zunächst so lasen, als ob auch die Daten ehemaliger Mitglieder gespeichert bleiben. Dazu sagt Riecke heute: »Das ist eine juristisch unglückliche Formulierung gewesen. Wir sorgen immer dafür, die Daten von Nutzern zu löschen, die sich abmelden.« Das ist nun klargestellt.

Was an den Sozialen Netzwerken neu ist und die Debatte so hitzig werden ließ, ist die Offenheit, mit der die meisten Nutzer persönliche, sogar intime Vorlieben aufschreiben und damit die Datenbanken von StudiVZ anreichern. Je detaillierter die Profile sind, umso mehr wird StudiVZ zu einer Datenbank des jugendlichen Geschmacks. An keinem anderen Ort kann ein Werbungtreibender diese Ziel- und Altersgruppe so vollständig erreichen. Nur – das sagt allein noch nicht viel.

Werbekunden wollen meist nicht »alle« Jugendlichen erreichen, sondern einen Teil: die Mädchen, die jungen Frauen, die am Ende ihres Studiums, die Fußballfans, die Biertrinker – die Reihe ließe sich fortsetzen. Hier beginnt das ökonomische Problem von StudiVZ. Der Internetanbieter kann den Werbekunden bisher keine Zielgruppen anbieten, sondern nur »die deutsche Jugend«.

Genau das soll sich ändern mit der Vermarktung nach Alter, Geschlecht, Studienfach und -ort. Weitere Kriterien werden zweifellos folgen – und die jetzige Debatte um StudiVZ wird nicht die letzte gewesen sein.
Diesen Artikel auf vielen Seiten lesen
© DIE ZEIT, 27.12.2007 Nr. 01

http://www.zeit.de/2008/01/Studi-VZ?page=all
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

das ist meiner Meinung nach eine wirklich schlechte Nachricht:

Limitierter Zugang für Doktoratstudium angedacht

Rektoren wollen Studierende entsprechend vorgegebener Qualitätsstandards und in Übereinstimmung mit Kapazitäten auswählen
Wien - Nicht nur auf Master-Ebene soll es nach dem Wunsch der Rektoren künftig Änderungen beim Universitätszugang geben - auch das Doktoratstudium steht vor Umwälzungen: Die Rektoren wollen für die Unis das Recht, Doktoratsstudenten \"entsprechend den von ihr vorgegebenen Qualitätsstandards und in Übereinstimmung mit ihren Kapazitäten auszuwählen\". Gleichzeitig müssten die Hochschulen Zusatzmittel erhalten, um ihre Doktoranden auch anstellen zu können - das Doktoratstudium soll künftig nämlich stärker als Einstieg in eine wissenschaftliche Karriere behandelt werden, heißt es in \"Empfehlungen\" der Universitätenkonferenz (vormals Rektorenkonferenz) zum \"Doktoratstudium neu\".

Studiendauer: Mindestens drei Jahre

Im Zuge des Bologna-Prozesses wurde 2006 auch in Österreich beschlossen, dass ein Doktoratsstudium künfig mindestens drei Jahre dauern soll. Ab dem Wintersemester 2009/10 dürfen die Unis daher keine Studenten mehr für ein Doktoratstudium zulassen, das kürzer als drei Jahre dauert. Derzeit beträgt die Mindeststudiendauer für viele Doktoratstudien in Österreich nur vier Semester, der Zugang zum Doktorat ist frei.

Doktoratsprogramme

Nicht nur Studiendauer und Zugang sollen sich ändern: So soll die Ausbildung in \"fachlich verwandten oder zusammengehörigen, aber unter Umständen auch fakultäts- und universitätsübergreifenden Doktoratsstudien oder Doktoratsprogrammen organisiert werden\", empfehlen die Rektoren. Betreuer sollen \"aktive Forscher sein, die erfolgreiche Forschungsergebnisse, Kontakte und Publikationen vorweisen können\". Bald Geschichte sein soll die klassische Einzelbetreuung von Dissertanten: Vielmehr sollen die Jungwissenschafter zwar einen Hauptbetreuuer haben, gleichzeitig aber in ein Team eingebunden werden und weitere Ansprechpersonen haben.

Stärker strukturiert

Außerdem soll das Doktoratsstudium stärker strukturiert werden: So ist der Studienfortschritt vom Betreuungsteam in bestimmten Abschnitten zu bewerten - zu Beginn etwa durch eine Präsentation des Dissertationsthemas durch die Studenten, jährlich oder halbjährlich durch einen Fortschrittsbericht oder eine mündliche Präsentation. Die Dissertation als Kernelement des Doktorats soll neue Einsichten oder Erkenntnisse nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis erbringen. Themen bzw. Dissertationsstellen sollen international ausgeschrieben, die Dissertation bzw. zumindest Teilergebnisse auch publiziert werden. In naturwissenschaftlichen und technischen Fächern ist die Publikation \"in einem peer-reviewten Journal erwünscht und kann zur Bedingung der Annahme einer Dissertation gemacht werden\".

Grüne: \"Aufwertung begrüßenswert\"

\"Durchaus vorstellbar - und in vielen Details sogar begrüßenswert\", findet Kurt Grünewald, Wissenschaftssprecher der Grünen, \"die Aufwertung des Doktoratsstudiums\". Grundvoraussetzung sei für ihn allerdings, dass der Zugang zu Masterstudien nicht weiter beschnitten werde. \"Ich stimme mit den Wünschen der Rektorenkonferenz nach einer besseren finanziellen Ausstattung der Universitäten überein. Dies sollte allerdings nicht allein für Doktoratsstudien sondern auch für einen breiteren Zugang, insbesondere auch für die Masterstudien, gefordert werden\", teilt Grünewald via Aussendung mit. (APA/red)



Die Elite bunkert sich immer mehr ein.
Benutzeravatar
Nukkumatti
Beiträge: 3956
Registriert: 26 Jul 2006, 06:24
Kontaktdaten:

Beitrag von Nukkumatti »

Thessaloniki - Sechs Frauen haben die autonome Mönchsrepublik Berg Athos im Norden Griechenlands betreten und müssen nun mit bis zu sechs Monaten Haft rechnen. Zum Gebiet haben nach wie vor ausschließlich Männer Zutritt.

Protestaktion

Am Dienstag sind die Frauen vor laufenden Fernsehkameras über den Grenzzaun gesprungen und demonstrativ auf dem Boden des Klosterstaates spazierengegangen. Mit ihrer Aktion wollten die Frauen dagegen protestieren, dass die Mönche außerhalb ihrer Republik landwirtschaftlich genutztes Gelände beanspruchen. Die Konsequenz: Vorübergehende Festnahme.

Mönchsrepublik nicht souverän

Das seit dem 10. Jahrhundert geltende \"Avaton\" verbietet Frauen den Zutritt. Athos hat einen eigenen Vertrag mit der EU, der sicherstellt, dass die Freizügigkeit der Niederlassung nicht für den Heiligen Berg gilt. Anders als der Vatikan, der 1929 durch die Lateranverträge ein eigener Staat wurde, ist die 336 Quadratkilometer große Mönchsrepublik nicht souverän, sondern ein Kondominium unter der gemeinsamen Herrschaft Griechenlands und des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, der selbst türkischer Staatsbürger sein muss.

Österreich-Ungarns Rolle

Für den heutigen Status des Heiligen Berges, der seit 1430 unter osmanischer Oberhoheit gestanden war, trägt indirekt Österreich-Ungarn die Verantwortung. Nach dem zweiten Balkan-Krieg 1913 wurde er als souveränes Staatswesen mit den orthodoxen Staaten als Schutzmächten konzipiert. Österreich-Ungarn erhob auf der Londoner Konferenz Anspruch darauf, ebenfalls als Schutzmacht anerkannt zu werden. Wegen der österreichischen Haltung kam die Konferenz zu keinem Ergebnis.

Die Mönche erklärten sich ihrerseits als vom Ökumenischen Patriarchat abhängige geistliche Gemeinde außerstande, einen weltlichen Staat zu bilden. Der die staatliche Aufsicht ausübende griechische Gouverneur ist dienstrechtlich den Präfekten der griechischen Verwaltungsbezirke gleichgestellt, untersteht aber nicht dem Innen-, sondern dem Außenministerium in Athen. Das Parlament, die \"Hiera Koinotes\" (Heilige Gemeinschaft), setzt sich aus den gewählten Vertretern der einzelnen Klöster zusammen. (APA/dpa)

http://diestandard.at/?id=1197469322911
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

Bei dem Artikel wird einem ganz anders, besonders bei dem Teil mit 255000 Dollar Schulden...


Fragen Sie Doktor Flatrate!

Von Christine Mattauch

Das marode Gesundheitssystem in den USA wird zum Wahlkampfthema. Ein Provinzarzt aus West Virginia hat eine Lösung für das brennende Problem

Vic Woods Rebellion gegen das amerikanische Gesundheitssystem begann mit einem Inserat. Am 26. November 2003 stießen die Leser der Lokalzeitung Intelligencer auf folgende Überschrift: »Bürger im Ohio-Valley, aufgepasst. Macht Euch startklar für ein neues Gesundheitskonzept!« Wood, ein praktischer Arzt aus der Kleinstadt Wheeling in West Virginia, machte Patienten ein Angebot. Für eine monatliche Pauschale von 83 Dollar könnten sie sämtliche Leistungen seiner Praxis in Anspruch nehmen – unbeschränkt und inklusive Medikamenten.

Das Angebot sei, dachte Wood, vor allem für Patienten interessant, die keine Krankenversicherung haben. In den Vereinigten Staaten betrifft das immerhin mehr als 47 Millionen Menschen, also etwa jeden sechsten Einwohner. Das Problem ist so groß, dass es sogar im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielt. Alle demokratischen und die Hälfte der republikanischen Kandidaten haben Konzepte zur Reform des Gesundheitswesens vorgelegt. Die Pläne reichen von besseren Steuerabzugsmöglichkeiten für Versicherungsbeiträge bis zu einer Zwangsversicherung für alle Bürger. Endlich diskutiert die Nation über etwas, was Vic Wood schon vor Jahren aufregte.

Der 51-Jährige praktiziert mit einem Kollegen und vier Assistenzärzten in einem flachen Klinkerbau im Osten von Wheeling. Gemeinsam behandeln sie im Jahr ungefähr 7.000 Patienten. Wheeling liegt rund eineinhalb Autostunden von Pittsburgh entfernt, es ist eine ärmliche Stadt, die seit 1950 die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren hat. Früher wurde in der Umgebung Kohle abgebaut, heute halten sich die Leute überwiegend mit schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs entlang der Autobahn über Wasser. Rund 20 Prozent von Woods Patienten sind unversichert, und die meist unvorhergesehenen Ausgaben eines Arztbesuchs bringen viele der Kranken in Bedrängnis. »Wenn sie einen festen Betrag einplanen können, wäre vielen von ihnen geholfen«, war Woods Überlegung. Er wertete die Daten von Tausenden Patienten aus und legte den Preis fest: 83 Dollar für eine Einzelperson, 125 Dollar für eine Familie. »Wie ein Restaurantbesitzer, der ein Buffet zum Festpreis anbietet«, sagt er.

Zu seiner Enttäuschung war die Resonanz auf die Anzeige verhalten, viele Leser hielten sie für einen Werbegag. Dafür meldete sich die Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und erklärte das Konzept für illegal. Die Pauschale, so die Argumentation der Behörde, sei in Wahrheit eine Versicherung, für die der Arzt keine Zulassung besitze. Wood hingegen beharrte darauf, dass er keine Versicherung, sondern ein Produkt verkauft: medizinische Grundversorgung.

Bei einer Wahlkampfveranstaltung passte er West Virginias Gouverneur Joe Manchin ab. Der berief Wood in eine Arbeitsgruppe, die Vorschläge zur Lösung des Nichtversichertenproblems machen sollte. Monatelang pendelte der Arzt zwischen Wheeling und West Virginias Hauptstadt Charleston – drei Stunden hin, drei Stunden zurück. Dann hatte er es geschafft: Seit April vergangenen Jahres ist die Pauschale Teil eines Pilotprojekts. Der Arzt darf allerdings nur Patienten aufnehmen, die zuvor keine Versicherung hatten. So soll verhindert werden, dass Versicherte ihre Police kündigen, um auf das weitaus billigere, aber auf Hausarztleistungen begrenzte Pauschalmodell umzusatteln.

Weder die ganz Armen noch die Senioren stellen den Großteil der Unversicherten in den USA. Für diese beiden Gruppen sorgt der Staat über seine Programme Medicare und Medicaid. Es sind Geringverdiener und Angehörige der Mittelschicht, die vom amerikanischen Gesundheitssystem nicht mehr erfasst werden.

Amerikaner sind traditionell über ihren Arbeitgeber krankenversichert. Insbesondere große Unternehmen wie General Motors oder Microsoft versichern ihre komplette Belegschaft zu Einheitsprämien und übernehmen einen Teil der Kosten. Die durchschnittliche Jahresprämie für eine Arbeitnehmerfamilie beträgt 12.100 Dollar, davon übernimmt der Arbeitgeber 8.800 Dollar. Das Versicherungsrisiko tragen die Unternehmen entweder selbst, oder sie schließen Verträge mit privaten Versicherern. All das geschieht auf freiwilliger Basis. »Die Zahl der Unternehmen, die eine Krankenversicherung anbieten, schrumpft«, stellt Tevi Troy fest, der stellvertretende US-Gesundheitsminister. Im Jahr 2000 waren es 69 Prozent, jetzt sind es nur noch 60 Prozent.

Kleine und mittelgroße Unternehmen bieten wegen der hohen Kosten nur selten Versicherungsschutz an. Beschäftigte im Mittelstand sind eine der größten Gruppen der Unversicherten. Eine weitere sind Freiberufler und Selbstständige. Die meisten könnten sich theoretisch individuell versichern, aber das ist so teuer, dass viele es sich nicht leisten können oder wollen. Zumal – groteske Ungerechtigkeit – Prämien nur dann steuerlich absetzbar sind, wenn die Versicherung über den Arbeitgeber abgeschlossen wurde.

Da die Krankenversicherung an den jeweiligen Arbeitgeber gebunden ist, sind auch Jobwechsler unversichert, wenn sie für eine kurze Zwischenzeit arbeitslos sind. Tragisch, wenn jemand in einer solchen Beschäftigungspause schwer erkrankt. Schlagzeilen machte kürzlich der Fall des 21-jährigen Sergio Olaya, der seine College-Ausbildung abbrach, um zu arbeiten und die Schulden seiner verstorbenen Mutter zu bezahlen. Diese war im Dezember 2006 arbeitslos geworden. Zwar hatte sie eine neue Stelle in Aussicht, doch bevor sie die antreten konnte, wurde bei ihr ein fortgeschrittener Gehirntumor entdeckt. Im April war die Mutter tot. Sergio Olaya jobbt jetzt als Fahrstuhlführer beim Senat in Washington, um Arzt- und Klinikrechnungen von insgesamt 255.000 Dollar abzustottern.

Eine weitere Gruppe sind chronisch Kranke. Versicherungen sind nicht verpflichtet, sie aufzunehmen. Sie erhalten Neuverträge überhaupt nicht oder nur zu astronomischen Prämien. Wer eine Versicherung hat und schwer erkrankt, erhält nicht selten umgehend eine Kündigung von seiner Versicherung.

So erging es dem 36-jährigen Chris Strussion aus St. Clairsville in Ohio, der gemeinsam mit seiner Frau Amy ein Kleinunternehmen mit vier Mitarbeitern betreibt. Sie haben zwei Kinder im Teenageralter, Taylor und Brooke. Im Jahr 2000 schloss die Familie eine private Krankenversicherung ab, damals für einen Beitrag von 650 Dollar im Monat. Doch nur zwei Jahre darauf erlitt Chris einen Bandscheibenvorfall. Nach der Diagnose erhöhte die Versicherung den Monatsbeitrag auf 796 Dollar. Nach weiteren zwei Jahren musste Chris operiert werden. »Es gab eine große Auseinandersetzung«, erinnert er sich. »Die Versicherung wollte die Kosten nicht tragen. Sie behauptete, das Krankenhaus würde nicht zu ihren Vertragspartnern gehören.« Am Ende blieben die Strussions auf 30.000 Dollar sitzen. Außerdem kündigte die Versicherung den Vertrag. Mit seinem chronischen Rückenleiden war Chris Strussion zu einem unkalkulierbaren, teuren Risiko geworden.

Die Strussions blieben unversichert. Sie waren so diszipliniert, jeden Monat einige Hundert Dollar beiseitezulegen, für Notfälle. »Wir konnten froh sein, dass unser Unternehmen gut lief und die Kinder gesund waren«, sagt Amy Strussion. So ging es eine Zeit lang. Aber das Gefühl der Unsicherheit verließ sie nicht. Sie versuchte zu sparen, auch dann, wenn es ihr nicht gut ging. »Mit den Kindern geht man zum Arzt, aber sich selbst schont man nicht«, sagt sie.

Im August wurden die Strussions Pauschalkunden von Dr. Wood. Amy und Chris sind begeistert. In den ersten drei Monaten, so ihre Rechnung, waren beide Kinder zur Jahresuntersuchung in der Praxis, Tochter Taylor wurde zweimal wegen Nagelbettentzündung behandelt, Chris ließ seinen Rücken untersuchen. Das hätte früher alles in allem über 800 Dollar gekostet, schätzen sie, gegenüber 375 Dollar für das Pauschalpaket. »Wir haben Dr. Wood gegenüber fast ein schlechtes Gewissen.«

Wood aber vertraut auf seine Kalkulation. Er glaubt auch nicht, dass Patienten die Praxisleistungen übermäßig in Anspruch nehmen, nach dem Motto: Kostet ja nichts. »Ich kenne meine Patienten. Die haben Besseres zu tun, als freiwillig zwei Stunden im Wartezimmer zu sitzen.« Im Übrigen will er mit seinem Pauschalmodell nicht nur den Unversicherten helfen, sondern auch sich selbst. Seine Großpraxis, sagt er, werfe von Jahr zu Jahr weniger ab: »Die Versicherungen streichen die Erstattungsbeträge zusammen. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an Belege und Nachweise.« Das Pauschalmodell schaltet die Versicherungen als Zwischenhändler aus. Wenn es sich durchsetzt, reduzieren sich die Verwaltungskosten, die laut Wood rund ein Drittel der laufenden Praxiskosten ausmachen.

Versicherer sind gar nicht gut auf Dr. Wood zu sprechen. Der Rechtsanwalt T. Randolph Cox von der Anwaltspraxis Spilman, Thomas & Battle in Charleston, der als Lobbyist für mehrere große Versicherer arbeitet, wirft dem Arzt Wucher vor: Verglichen mit den Sätzen, die Versicherungen in ihren Kalkulationen für Hausarztleistungen zugrunde legten, sei der Pauschalpreis viel zu hoch. Wood kontert, dass sein Angebot Leistungen enthält, die weit über die der Versicherungen hinausgehen – beispielsweise kostenlose Arzneien und Laboruntersuchungen.

Drei Jahre schon läuft das Pilotprojekt, und Wood hat bisher 120 Patienten dafür gewonnen. Seine Vision ist ein modernes Gesundheitssystem, bei dem die Bürger nur noch größere Risiken versichern und die Basisleistungen direkt bei den Ärzten einkaufen – oder auch bei den Krankenhäusern. »Das wäre ein System, in dem es wirklich Wettbewerb gibt«, sagt er. Politisch hat ein derartiger Paradigmenwechsel aber wohl wegen der mächtigen Versicherungslobby keine Chance. Auch wenn die Reform des Gesundheitswesens ein großes Thema im aktuellen Wahlkampf geworden ist – auf den Anruf eines interessierten Präsidentschaftskandidaten wartet Wood bislang vergebens.

DIE ZEIT, 10.01.2008 Nr. 03

http://www.zeit.de/2008/03/US-Gesundheitswesen?page=all
Benutzeravatar
TheStranger
Beiträge: 6872
Registriert: 30 Mai 2006, 21:50
Kontaktdaten:

Beitrag von TheStranger »

Ist leider eh ein altbekannter Hut, aber anders wird einem wirklich teilweise beim Durchlesen. Tja vielleicht doch nicht unbedingt so ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Werd schwerwiegender krank und dein Leben is verschissen.
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

Ja bekannt ist es eh, aber irgendwie war mir das bist jetzt noch gar nicht bewußt wie übel das System eigentlich für die Mittelschicht ist. So lustig ists ja sowieso nicht eine schwere Krankheit zu haben, aber dass dann Versicherungen zum Beispiel auch noch einfach kündigen dürfen das ist schon mehr als eine Frechheit.
Benutzeravatar
TheStranger
Beiträge: 6872
Registriert: 30 Mai 2006, 21:50
Kontaktdaten:

Beitrag von TheStranger »

Ja das hab ich mir auch gedacht beim Lesen; wenn die Leute eh schon einen Batzen Geld hinlegen und dann im Endeffekt doppelt draufzahlen ist das echt eine Frechheit. Das Problem ist ja, daß man auch nicht vor Gericht gehen kann; d.h. gehen schon, aber wer wird wohl die besseren Anwälte haben...traurig sowas. So gesehen haben wir in Österreich eh ein ziemliches Glück.
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

Ich fand auch die Summen die man dort zahlt ungeheuer hoch, also für die Versicherung. So weit ich weiß zahlt man bei uns wenn man echt eine tolle Krankenversicherung abschließt so um die 100 Euro im Monat, gibts aber auch schon billiger. Stell dir mal vor wer sich das leisten kann wenn das 650 Euro im Monat kostet...
Benutzeravatar
TheStranger
Beiträge: 6872
Registriert: 30 Mai 2006, 21:50
Kontaktdaten:

Beitrag von TheStranger »

Ja hab ich mir eh auch gedacht beim Lesen, unleistbar. Bzw. schon allein mit der Geringfügigkeitsgrenze unvereinbar...einfach nur irree.
Benutzeravatar
Kreuznagel
Beiträge: 1245
Registriert: 28 Jul 2006, 19:11
Wohnort: Orange County
Kontaktdaten:

Beitrag von Kreuznagel »

dafür zahlens ja ka sozialversicherung oder? frechheit is das allerdings dass die versicherungen einen versciherten rausschmeißen kann wenn er schwerkrank wird. wofür versicher i mi dann, wenn ned deswegen??
Benutzeravatar
mauergecko
Beiträge: 7348
Registriert: 29 Apr 2006, 19:42

Beitrag von mauergecko »

Wegen Sozialversicherung: ja da könntest recht haben...


[quotehfo]
[ihfo]Original von Kreuznagel:[/ihfo]
frechheit is das allerdings dass die versicherungen einen versciherten rausschmeißen kann wenn er schwerkrank wird. wofür versicher i mi dann, wenn ned deswegen??
[/quotehfo]

Das würde ich auch sagen, unglaubliche Frechheit.
Benutzeravatar
Nukkumatti
Beiträge: 3956
Registriert: 26 Jul 2006, 06:24
Kontaktdaten:

Beitrag von Nukkumatti »

in at ist sowas leider keine seltenheit ...

:(





Freitag, 11. Jänner. Hannah J. sitzt mit ihrer fünf Wochen alten Tochter in einem Wartezimmer eines Arztes in Graz. Eine leopardenhaft gekleidete ältere Frau nimmt neben ihr Platz, lächelt ihr zu und eröffnet das Gespräch. \"Es ist wirklich schön zu sehen, dass einmal eine weiße, österreichische Mutter ihr Kind verwöhnt und nicht immer nur die Negerbabys gehutscht und verhätschelt werden.\" Hannah, verdattert: \"Ich finde, es sollten alle Babys verwöhnt werden, so gut es geht.\" Die Frau, ernster: \"Ja, aber nicht die, die nichts arbeiten.\"

Hannah: \"Ich muss gestehen, meine Tochter arbeitet auch nichts.\" Die Frau, ernster: \"Na ja, ich meine die Ausländer, die herkommen, von unseren Steuern leben und nichts arbeiten.\" Hannah: \"Ich habe viele ausländische Bekannte, die meisten arbeiten hart und zahlen Steuern, dürfen aber nicht wählen. Und sollten Sie Asylwerber meinen, die dürfen nicht arbeiten, das ist in Österreich Gesetz.\" Die Frau, ernster: \"Sie kennen welche, die arbeiten? Komisch, ich nicht.\" Hannah: \"Übrigens, ich bin 26 Jahre alt, Österreicherin, Studentin, ich wähle, bekomme Kindergeld und habe noch nie einen Cent Steuern gezahlt.\" Die Frau wendet sich betreten ab. (Daniel Glattauer, DER STANDARD, Printausgabe 21.1.2008 )

http://derstandard.at/?id=3190380&_range=1
Antworten