Verfasst: 15 Dez 2007, 14:17
wieder mal eine ausgezeichnete analyse von gudrun harrer:
Chronik eines doppelten Scheiterns
Planloses Fuhrwerken als Strategie: Wie die britische Irakpolitik 2007 einer Politik ähnelt, die schon 80 Jahre zuvor betrieben wurde
Die Briten hatten mir das Recht eingeräumt, die Residenz des Botschafters zu benützen für meine Treffen der EU-Missionschefs. Das Haus, das früher eine Verwandte Saddam Husseins bewohnt hatte, war eines der etwas weniger hässlichen unter den Produkten der spießig-protzigen Regimearchitektur im Viertel rund um den Republikanischen Palast, in dem jetzt die Amerikaner hausten. In einer Ecke stand noch ein thronähnlicher Sessel, auch ein Tischaufsatz war übrig geblieben, ein riesiger, geschmackloser goldener oder vergoldeter Tiger.
Sonst war die Residenz von den Briten möbliert, auch Möbel aus der alten Residenz aus dem Teil Bagdads, der nun zur „roten Zone“ gehörte, waren hingeschafft worden. Unter anderem der Tisch, auf dem, so wurde mir gesagt, „Gertrude Bell die Grenzen des Irak gezogen hat“. Ich habe an ihm einmal ein mit Haggis gefülltes Lamm gegessen, der Botschafter war Schotte.
Ich hätte gerne das Grab Gertrude Bells, der mächtigen britischen „Orient-Sekretärin“ in den 1920er-Jahren, auf dem British Cemetery in Bab al-Sharji besucht, aber ich versuchte es nicht einmal: Das eigene Leben und das von Leibwächtern zu riskieren für einen exzentrischen Ausflug schien mir nicht angebracht, abgesehen davon, dass er mir wohl ohnehin verweigert worden wäre.
Wenige Tage, nachdem ich Bagdad nach einem halben Jahr wieder verlassen hatte, jährte sich am 12. Juli 2006 Bells Selbstmord in Bagdad zum 80. Mal. Die 58-Jährige hatte, krank, erschöpft und depressiv wie sie war, Schlaftabletten genommen. 80 Jahre später, Mitte Juli 2006, erlebte Bagdad gerade einen kurzfristigen Rückgang der „hostile incidents“, der feindlichen Vorfälle, die aber Anfang August schon wieder auf mehr als zwanzig täglich anstiegen, bei etwa 120 im gesamten Irak, die meisten davon im Zentrum des Landes.
Bilder vom Mob
Im Süden, in Basra, war es vergleichsweise ruhig, aber die Zeichen der konstanten Verschlechterung hatten uns über Monate hin begleitet. Das Klischee von den Briten, die alles viel besser machten als die Amerikaner, weil sie den Irak ja „kannten“, erlitt in dieser Zeit böse Beschädigungen: Bestürzt verfolgten wir in der britischen Kantine in Bagdad die Bilder vom Mob, der in Basra die Leichen von britischen Soldaten aus einem abgeschossenen Hubschrauber zerrte, hörten dem britischen Botschafter zu, als er seiner Belegschaft den Tod zweier Iraker mitteilte, die ermordet worden waren, weil sie für die Briten arbeiteten.
Unser zuvor weitgehend „gelsenfreies“ – wie wir die Abwesenheit von Steilfeuerangriffen nannten – britisches Compound (wo ich wohnte) war plötzlich Zielscheibe: Meinen die wirklich uns, fragten wir nach dem ersten Beschuss, oder war es eine verirrte Rakete, die den Amerikanern gegolten hat? Sie meinten uns, das heißt: die Briten. In Basra wurde es im Lauf der Zeit arg, dort wurde der „Palace“, in dem die Briten saßen, hunderte Male pro Monat mit Raketen und Mörsern beschossen.
Im Dezember 2007 ist der britische Außenminister David Miliband „hoch erfreut“ darüber, dass die irakische Regierung die Sicherheitsagenden für die Provinz Basra übernehmen wird, und „gratuliert allen, die dabei mitgeholfen haben, das zu erreichen“. Ein Unterhausausschuss macht den Spielverderber und stellt in einem Bericht fest: „Das Ausgangsziel der britischen Streitkräfte im Südostirak war, die für eine Entwicklung von repräsentativen politischen Institutionen und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nötige Sicherheit zu schaffen. Obwohl es Fortschritte gibt, bleibt dieses Ziel unerfüllt.“
Kritische Beobachter meinen zudem, die zuletzt konstatierte Verbesserung der Sicherheitslage in Basra komme daher, dass sich die Milizen des Schiitenführers Muktada al-Sadr gegen die anderen durchgesetzt, auf ihre Art Basra „befriedet“ haben. In den vergangenen Monaten wurden vierzig Leichen von Frauen gefunden, auf die Straßen geworfen und mit Zetteln versehen, auf denen sie des Ehebruchs oder anderer Ehrvergehen beschuldigt wurden. Die Angehörigen beanspruchen ihre Toten oft nicht, aus Angst. Aber es ist jetzt ruhiger, das stimmt.
Im Frühjahr 2008 wird die britische Armee im Irak auf ein Minimum reduziert sein, fünf Jahre nach ihrem Einmarsch. Am 21. März 2003, zwei Tage nach Kriegsbeginn, hatten amerikanische und britische Truppen Basra erreicht. Gegen die allgemeine Erwartung stießen sie auf beträchtlichen Widerstand. Erst am 6. April ist Basra unter Kontrolle, am 29. Mai besucht der britische Premier Tony Blair die Stadt.
Im Juni 2003 werden zum ersten Mal britische Polizisten angegriffen und getötet. Aber es dauert bis 2006, bis die Situation völlig abzurutschen droht. Die Briten sind plötzlich Kriegspartei, stehen zwischen Stämmen, Guerillas, Kriminellen und – oft nicht zu unterscheiden – Elementen der irakischen Verwaltung und der Sicherheitskräfte, die auch untereinander konkurrieren. Im Dezember 2006 stürmen tausend britische Soldaten das Hauptquartier der irakischen Polizei, befreien 127 Gefangene und retten ihnen damit wahrscheinlich das Leben. Die Situation wird unhaltbar, im August 2007 beginnt der Auszug der Briten aus Basra auf ihren Luftwaffenstützpunkt außerhalb der Stadt.
Als im September 2007 der frü_here britische Generalstabschef Michael Jackson die US-Nachkriegspolitik im Irak als „intellektuell bankrott“ beschreibt, kommen die Retourkutschen: Die Briten seien im Irak gescheitert, sie säßen in Basra „wie in einer von Indianern umzingelten Wagenburg“ fest, höhnen die amerikanischen Medien. Den kuriosesten Satz zur Situation im Irak habe ich, die ich – siehe meinen Wunsch, ihr Grab zu besuchen – nicht völlig gegen Bell-Kitsch gefeit bin, im Juni 2007 im Spectrum der Presse gelesen. Es sehe nicht gut aus im Irak, schreibt da ein Wiener Historiker. „Zumal die sanfte und zugleich energische Hand einer fließend Arabisch sprechenden Gertrude Bell, der eigentlichen Mutter des Irak, fehlt.“ Sie hätte wohl laut gelacht.
Der Autor von The Prince of the Marshes (Der Prinz des Marschlandes), Rory Stewart, nach der Invasion 2003 als britischer Berater im Südirak tätig, schreibt in einem The Queen of the Quagmire (Die Königin des Morastes) betitelten Artikel in der New York Review of Books im Oktober über Bell, dass ihre größte Stärke in der Klarheit bestand, mit der sie das britische Scheitern im Irak analysierte: „Wir sind da hineingestolpert, wie üblich bei uns ohne einen umfassenden politischen Plan (...) Wenn Leute davon reden, dass wir uns durchwursteln, bekomme ich einen Anfall. Durchwursteln! Ja, das tun wir – dabei waten wir durch Blut und Tränen, die nie vergossen werden hätten müssen.“
Bell, die zuerst als „Political Officer“ den britischen Okkupationstruppen in den Irak folgte, später zur hohen Position des „Oriental Secretary to the Civil Commissioner“ in Bagdad aufstieg, sah zwar scharf, aber auch durch die damals offenbar unvermeidlich orientalistische Brille (die jedoch auch so manchem ihrer westlichen Berufskollegen nach 2003 noch auf der Nase sitzt): Der Orientale sei „wie ein sehr altes Kind“, mit ganz eigenen Wünschen eben und nicht sehr rational. Ihr selbst wurde jedoch – als Frau – von ihren Kollegen, zum Beispiel von T. E. Lawrence, der als Lawrence of Arabia durchs westliche Bewusstsein galoppiert, ihre Emotionalität vorgeworfen, sie ändere ihre Ausrichtung „wie ein Wetterhahn“, sagte er, der ihr aber nicht übel gesonnen war.
Ihr Diplomatenkollege Sir Mark Sykes – der mit dem Franzosen George Picot 1916 die künftige Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich festschrieb, nur ein Jahr, nachdem die Briten den Arabern für ihren Aufstand gegen die Osmanen die Unabhängigkeit versprochen hatten – hatte eine andere Beschreibung parat: Sie sei ein „flachbrüstiges globetrottendes Mannweib, eine steißwackelnde, schwatzende blöde Kuh“. Auch Ibn Saud (Abdul Aziz Al Saud), der spätere König von Saudi-Arabien, konnte sie offenbar nicht leiden und unterhielt seine Zuhörer mit schrillen Bell-Parodien.
Einen Restposten dieser britisch-französischen Nahostpolitik, Faisal, machte Bell 1921 zum irakischen König, das kann man schon so sagen. Faisal war einer der Söhne des haschemitischen Sharifen von Mekka, den der oben erwähnte Ibn Saud 1926 aus dem Hijaz vertrieb. Faisal war mit Lawrence in Damaskus eingezogen und von dort wieder verjagt worden, weil er sich als König weigerte, das französische Mandat formell anzuerkennen. Als ihm die Briten die irakische Krone anboten, hatte Faisal die Lektion gelernt: Auch inklusive britischem Mandat nahm er sie, unter der etwas koketten Bedingung, dass die Iraker ihn denn auch wirklich wollten.
Schonungslose Analyse
Dafür sorgte Bell: Faisals Fahrt von Basra nach Bagdad wurde zwar nicht zum Triumphzug, aber 96 Prozent Zustimmung brachte das „wohlorganisierte Plebiszit“ danach, wie das der britische Historiker Toby Dodge in Inventing Iraq (Die Erfindung des Irak) nennt, einer schonungslosen Analyse der britischen Präsenz im Irak während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das Buch hat den Untertitel The Failure of Nation Building and a History Denied (Das Scheitern der Nationsbildung und eine verleugnete Geschichte). Dodge zieht auch Vergleiche, nicht so sehr mit der britischen Politik im heutigen Irak – dazu ist sie nicht gewichtig genug –, sondern mit der amerikanischen.
Die Briten waren Ende 1914 in Basra und auf der strategisch wichtigen Halbinsel Faw einmarschiert, als klar wurde, dass das Osmanische Reich auf Seite der Zentralmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eintreten würde. Erst im März 1917 zogen die Briten – genauer gesagt die Mesopotamian Expeditionary Force (MEF) – in Bagdad ein, dazwischen lag die fürchterliche Belagerung und Niederlage von Kut (wo die Briten im Mai 2003 den britischen Militärfriedhof wieder freilegten).
Der „Eroberer“ von Bagdad war General Stanley Maude: 2003 wurde das britische Hauptquartier in der Grünen Zone in Bagdad nach ihm „Maude House“ genannt, da kennen sie nichts, die Briten. Maude starb noch im November 1917 auf dem Vormarsch nach Ramadi und Tikrit an Cholera. 90 Jahre später, im Dezember 2007, wütet im Irak wieder die Cholera. Von den 34.000 Ärzten, die es 2003 im Land gab, sind 2000 ermordet worden und 12.000 ins Ausland geflüchtet. 70 Prozent der Iraker sind ohne adäquate Wasserversorgung, 28 Prozent der Kinder (2003 waren es 19 Prozent) sind unterernährt, da hat die Krankheit leichtes Spiel. Die WHO spricht von 3300 schweren und 33.000 leichteren Fällen.
Aber zurück, Maude hatte nach seinem Einzug in Bagdad eine Proklamation veröffentlichen lassen, in der er den Irakern mitteilte, dass die Briten „nicht als Eroberer und Feinde, sondern als Befreier“ von den Osmanen gekommen waren: „O Volk von Bagdad, denk daran, dass du seit 26 Generationen unter fremden Tyrannen gelitten hast, die immer danach getrachtet haben, ein arabisches Haus gegen das andere zu hetzen, um von eurer Uneinigkeit zu profitieren. Diese Politik ist Großbritannien und seinen Alliierten verhasst ... ” Zu dieser Zeit hatte London die 1914 kurz aufflackernde Idee einer Annexion des Irak längst ad acta gelegt, man stand aber immer noch bei „white man’s burden“, bei der Bürde des weißen Mannes, der Direktherrschaft. Und – ganz wie im Jahr 2003 von den USA – alles, was von den früheren Besatzern übrig war, musste zerschlagen werden, die Verwaltung, die Gesetze, die Wirtschaft. Vorbild für den neuen Irak war die britische Verwaltung in Indien, kurzfristig wurde die indische Rupie sogar zur geltenden Währung.
Es funktionierte nicht recht. Welche Enttäuschung. In ihrer bemerkenswerten Review of the Civil Administration in Mesopotamia, einem Zustandsbericht der britischen Verwaltung, den Rory Stewart mit der Berichterstattung von US-General David Petraeus und US-Botschafter Ryan Crocker 2007 in Washington vergleicht, schreibt Gertrude Bell (die allerdings auch die Briten nicht von der Kritik ausnimmt): „Es hat länger gedauert als angenommen, einige der Schulen in Bagdad wieder zu eröffnen. Die Verspätung ist den Leuten hier selbst zuzuschreiben, die die Möbel und die Ausstattung der Schulen plünderten und Türen, Fenster und alles, was man nur abmontieren konnte, davontrugen.“
1920 wird die Politik des für den Irak zuständigen britischen India Office durch den Ausbruch des Aufstandes diskreditiert. Wie alle späteren irakischen Aufstände im 20. Jahrhundert auch, bleibt die „arabische Revolte“ jedoch unorganisiert, disparat, lokalisiert, bringt aber doch zum ersten Mal, wenn auch nur für kurze Zeit, Sunniten und Schiiten und andere Fraktionen der irakischen Gesellschaft zusammen – ein erster Schritt zu einer irakischen Nation.
„Nicht ewig Weltpolizist“
Die Briten kostet die Revolte 400 Tote und 40 Millionen Pfund. Sie werden ihrer nur mit einem massiven Einsatz von Kampfflugzeugen, inklusive Giftgasangriffen, gegen die Aufständischen Herr. Die Kritik zuhause in London an der Irak-Politik wird lauter, man könne doch nicht ewig „den Weltpolizisten spielen“. Die Opposition spricht von „imperialistischer Überdehnung“.
Ein Staat muss her und ein König. Bell setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass zu den ehemaligen osmanischen Provinzen Basra und Bagdad auch das Vilayet Mossul zum Irak kommt, hauptsächlich aus demographischen Gründen: Sie setzt auf die Sunniten, die ihr, obwohl in der Minderheit, als die „natürlichen Herrscher“ des Irak erscheinen, und mit Mossul wird dem Irak eine schöne Portion Sunniten einverleibt (sie erlebt es noch: Der Völkerbund schlägt Mossul dem Irak 1925 definitiv zu).
Über Bells Vorurteile gegen die Schiiten lässt sich lange diskutieren: Liora Lukitz arbeitet in ihrer neuen Bell-Biographie A Quest in the Middle East – Gertrude Bell and the Making of Iraq (Ein Streben im Nahen Osten – Gertrude Bell und die Erschaffung des Irak) ganz gut heraus, dass es Bells Wut auf die „Mujtahidun“ ist, die schiitischen Rechtsgelehrten, die den neuen Staat und seine Führung ablehnen, weil er über die Köpfe des Klerus hinweg geschaffen wurde. Bell will die schiitischen Stammesführer von ihrer Furcht vor diesen „Teufeln“, wie sie sagt, befreien. Faisal lässt etliche von ihnen in den Iran deportieren, ein historisches Beispiel, auf das später Saddam Hussein zurückgreifen wird, allerdings deportiert er gleich Zehntausende.
Zweifellos ist Bell von den sunnitischen Stereotypen über die Schiiten beeinflusst, die man auch heute hört, sunnitische Ordnung gegen schiitisches Chaos, lieber 60 Jahre Tyrannei als einen Tag Aufruhr, wie sollen diejenigen ein Land regieren können, deren Führer – der zwölfte Imam, der Mahdi – sich dadurch auszeichnet, dass er seit dem 9. Jahrhundert verschwunden ist und seine Gemeinde verwaist hinterlässt?
Die Briten wollen Führer, mit denen sie reden können. In einer völligen Reversion der osmanischen Stammespolitik, die die tribalen Systeme dem staatlichen zu unterwerfen suchte, übertragen sie kooperationswilligen sunnitischen Stammesscheichs immer mehr Verantwortung und Gewalten. Das ist übrigens auch billiger als das teure britische Personal. Und es passt mit Bells (und anderer) Sicht des Orients zusammen: In einer ruralen, vormodernen Gesellschaft braucht es einen Mediator zwischen Staat und Bevölkerung, den starken Stammesscheich, der aus einer „sauberen“ arabischen Gesellschaft kommt, nicht aus den korrupten Städten mit ihren verweichlichten Bürgern.
Diese Intellektuellenfeindlichkeit wird weitreichende Folgen für die Entwicklung der irakischen Gesellschaft haben, die städtischen Eliten, mögliche Träger der Moderne, werden marginalisiert. Um den Stammeschef an den Staat zu binden, ist dann auch Rücksicht zu nehmen auf „tribale Gefühle“, und diese Rücksicht drückt sich in der von den Briten 1918 abgesegneten Tribal Criminal and Civil Disputes Regulation (etwa: Rechtsvorschrift zur Regelung von straf- und zivilrechtlichen Streitfällen bei Stämmen) aus, was nichts anderes heißt, als dass für die Stämme – und da kann man nicht einfach austreten – andere Gesetze gelten als im irakischen Recht.
Saddam Hussein macht nach dem Golfkrieg 1991, als es ihm Staat, Partei und Familie nach und nach zerbröselt, etwas ganz Ähnliches wie die Briten: Er überträgt den Stammeschefs wieder die Judikatur in gewissen Bereichen. In Familienangelegenheiten werden wir doch keinen Richter brauchen! Und sie bekommen Geld, Waffen und Land.
Alles war schon einmal da. Aus Bagdad schreibt ein Freund, dem ich meine Bedenken über die neue US-Politik der Aufrüstung von Stammeschefs mitteile: „Unsere Gäste (er meint die Amerikaner) werden sehr nervös, wenn jemand ihre Intention in Frage stellt oder das Programm (die Bewaffnung von Stammesmilizen) gar kritisiert.“ Längst sind bei den Schiiten Verschwörungstheorien unterwegs, die in der amerikanischen Politik die Aufrüstung der Sunniten für einen künftigen Bürgerkrieg – nach dem Abzug der Amerikaner – sehen. Als Kenner der Verhältnisse tendiert man eher dazu, als erstes Motiv der Amerikaner Verzweiflung anzunehmen. Und angesichts der Resultate – ist die Gewalt nicht im Sinken? – kommt dann wieder die Einstellung, ja doch Recht gehabt zu haben.
Faisal, Gertrude Bells König, hat die Unabhängigkeit des Irak 1932 noch erlebt (er starb 1933). Toby _Dodge konstatiert, dass die Briten damals eine Aufnahme des Irak in den Völkerbund durchsetzten – um das Mandat für ihn loszuwerden –, obwohl sie sehr gut wussten, dass der Staat nicht auf eigenen Beinen stehen konnte. Wenn die Briten heute unter Gratulationen aus Basra abziehen, ist es nicht viel anders, aber es gibt auch keine Völkerbundmandate mehr. Klar ist, dass in den fünf Nachkriegsjahren auch im Süden des Irak keine Institutionen geschaffen werden konnten, die als Rückgrat für eine effiziente, rechtsstaatliche Verwaltung dienen könnten – und dabei reden alle von Föderalismus. Der Süden hat eine realistische Chance verpasst, der böse sunnitische Aufstand fand ja woanders statt.
Würdige Nachfahren der Gertrude Bell – im Sinn, dass sie das, was geschehen ist, als das bezeichnen, was es ist, nämlich als Scheitern – gibt es auch. Dass die britische Regierung die Veröffentlichung der Memoiren von Sir Jeremy Greenstock, des ersten britischen Sondergesandten im Irak nach dem Fall Saddam Husseins, verhindert hat, zeigt, dass auch London „sehr nervös“ ist. (DER STANDARD, ALBUM, 15./16.12.2007)
http://derstandard.at/?id=3151771
Chronik eines doppelten Scheiterns
Planloses Fuhrwerken als Strategie: Wie die britische Irakpolitik 2007 einer Politik ähnelt, die schon 80 Jahre zuvor betrieben wurde
Die Briten hatten mir das Recht eingeräumt, die Residenz des Botschafters zu benützen für meine Treffen der EU-Missionschefs. Das Haus, das früher eine Verwandte Saddam Husseins bewohnt hatte, war eines der etwas weniger hässlichen unter den Produkten der spießig-protzigen Regimearchitektur im Viertel rund um den Republikanischen Palast, in dem jetzt die Amerikaner hausten. In einer Ecke stand noch ein thronähnlicher Sessel, auch ein Tischaufsatz war übrig geblieben, ein riesiger, geschmackloser goldener oder vergoldeter Tiger.
Sonst war die Residenz von den Briten möbliert, auch Möbel aus der alten Residenz aus dem Teil Bagdads, der nun zur „roten Zone“ gehörte, waren hingeschafft worden. Unter anderem der Tisch, auf dem, so wurde mir gesagt, „Gertrude Bell die Grenzen des Irak gezogen hat“. Ich habe an ihm einmal ein mit Haggis gefülltes Lamm gegessen, der Botschafter war Schotte.
Ich hätte gerne das Grab Gertrude Bells, der mächtigen britischen „Orient-Sekretärin“ in den 1920er-Jahren, auf dem British Cemetery in Bab al-Sharji besucht, aber ich versuchte es nicht einmal: Das eigene Leben und das von Leibwächtern zu riskieren für einen exzentrischen Ausflug schien mir nicht angebracht, abgesehen davon, dass er mir wohl ohnehin verweigert worden wäre.
Wenige Tage, nachdem ich Bagdad nach einem halben Jahr wieder verlassen hatte, jährte sich am 12. Juli 2006 Bells Selbstmord in Bagdad zum 80. Mal. Die 58-Jährige hatte, krank, erschöpft und depressiv wie sie war, Schlaftabletten genommen. 80 Jahre später, Mitte Juli 2006, erlebte Bagdad gerade einen kurzfristigen Rückgang der „hostile incidents“, der feindlichen Vorfälle, die aber Anfang August schon wieder auf mehr als zwanzig täglich anstiegen, bei etwa 120 im gesamten Irak, die meisten davon im Zentrum des Landes.
Bilder vom Mob
Im Süden, in Basra, war es vergleichsweise ruhig, aber die Zeichen der konstanten Verschlechterung hatten uns über Monate hin begleitet. Das Klischee von den Briten, die alles viel besser machten als die Amerikaner, weil sie den Irak ja „kannten“, erlitt in dieser Zeit böse Beschädigungen: Bestürzt verfolgten wir in der britischen Kantine in Bagdad die Bilder vom Mob, der in Basra die Leichen von britischen Soldaten aus einem abgeschossenen Hubschrauber zerrte, hörten dem britischen Botschafter zu, als er seiner Belegschaft den Tod zweier Iraker mitteilte, die ermordet worden waren, weil sie für die Briten arbeiteten.
Unser zuvor weitgehend „gelsenfreies“ – wie wir die Abwesenheit von Steilfeuerangriffen nannten – britisches Compound (wo ich wohnte) war plötzlich Zielscheibe: Meinen die wirklich uns, fragten wir nach dem ersten Beschuss, oder war es eine verirrte Rakete, die den Amerikanern gegolten hat? Sie meinten uns, das heißt: die Briten. In Basra wurde es im Lauf der Zeit arg, dort wurde der „Palace“, in dem die Briten saßen, hunderte Male pro Monat mit Raketen und Mörsern beschossen.
Im Dezember 2007 ist der britische Außenminister David Miliband „hoch erfreut“ darüber, dass die irakische Regierung die Sicherheitsagenden für die Provinz Basra übernehmen wird, und „gratuliert allen, die dabei mitgeholfen haben, das zu erreichen“. Ein Unterhausausschuss macht den Spielverderber und stellt in einem Bericht fest: „Das Ausgangsziel der britischen Streitkräfte im Südostirak war, die für eine Entwicklung von repräsentativen politischen Institutionen und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nötige Sicherheit zu schaffen. Obwohl es Fortschritte gibt, bleibt dieses Ziel unerfüllt.“
Kritische Beobachter meinen zudem, die zuletzt konstatierte Verbesserung der Sicherheitslage in Basra komme daher, dass sich die Milizen des Schiitenführers Muktada al-Sadr gegen die anderen durchgesetzt, auf ihre Art Basra „befriedet“ haben. In den vergangenen Monaten wurden vierzig Leichen von Frauen gefunden, auf die Straßen geworfen und mit Zetteln versehen, auf denen sie des Ehebruchs oder anderer Ehrvergehen beschuldigt wurden. Die Angehörigen beanspruchen ihre Toten oft nicht, aus Angst. Aber es ist jetzt ruhiger, das stimmt.
Im Frühjahr 2008 wird die britische Armee im Irak auf ein Minimum reduziert sein, fünf Jahre nach ihrem Einmarsch. Am 21. März 2003, zwei Tage nach Kriegsbeginn, hatten amerikanische und britische Truppen Basra erreicht. Gegen die allgemeine Erwartung stießen sie auf beträchtlichen Widerstand. Erst am 6. April ist Basra unter Kontrolle, am 29. Mai besucht der britische Premier Tony Blair die Stadt.
Im Juni 2003 werden zum ersten Mal britische Polizisten angegriffen und getötet. Aber es dauert bis 2006, bis die Situation völlig abzurutschen droht. Die Briten sind plötzlich Kriegspartei, stehen zwischen Stämmen, Guerillas, Kriminellen und – oft nicht zu unterscheiden – Elementen der irakischen Verwaltung und der Sicherheitskräfte, die auch untereinander konkurrieren. Im Dezember 2006 stürmen tausend britische Soldaten das Hauptquartier der irakischen Polizei, befreien 127 Gefangene und retten ihnen damit wahrscheinlich das Leben. Die Situation wird unhaltbar, im August 2007 beginnt der Auszug der Briten aus Basra auf ihren Luftwaffenstützpunkt außerhalb der Stadt.
Als im September 2007 der frü_here britische Generalstabschef Michael Jackson die US-Nachkriegspolitik im Irak als „intellektuell bankrott“ beschreibt, kommen die Retourkutschen: Die Briten seien im Irak gescheitert, sie säßen in Basra „wie in einer von Indianern umzingelten Wagenburg“ fest, höhnen die amerikanischen Medien. Den kuriosesten Satz zur Situation im Irak habe ich, die ich – siehe meinen Wunsch, ihr Grab zu besuchen – nicht völlig gegen Bell-Kitsch gefeit bin, im Juni 2007 im Spectrum der Presse gelesen. Es sehe nicht gut aus im Irak, schreibt da ein Wiener Historiker. „Zumal die sanfte und zugleich energische Hand einer fließend Arabisch sprechenden Gertrude Bell, der eigentlichen Mutter des Irak, fehlt.“ Sie hätte wohl laut gelacht.
Der Autor von The Prince of the Marshes (Der Prinz des Marschlandes), Rory Stewart, nach der Invasion 2003 als britischer Berater im Südirak tätig, schreibt in einem The Queen of the Quagmire (Die Königin des Morastes) betitelten Artikel in der New York Review of Books im Oktober über Bell, dass ihre größte Stärke in der Klarheit bestand, mit der sie das britische Scheitern im Irak analysierte: „Wir sind da hineingestolpert, wie üblich bei uns ohne einen umfassenden politischen Plan (...) Wenn Leute davon reden, dass wir uns durchwursteln, bekomme ich einen Anfall. Durchwursteln! Ja, das tun wir – dabei waten wir durch Blut und Tränen, die nie vergossen werden hätten müssen.“
Bell, die zuerst als „Political Officer“ den britischen Okkupationstruppen in den Irak folgte, später zur hohen Position des „Oriental Secretary to the Civil Commissioner“ in Bagdad aufstieg, sah zwar scharf, aber auch durch die damals offenbar unvermeidlich orientalistische Brille (die jedoch auch so manchem ihrer westlichen Berufskollegen nach 2003 noch auf der Nase sitzt): Der Orientale sei „wie ein sehr altes Kind“, mit ganz eigenen Wünschen eben und nicht sehr rational. Ihr selbst wurde jedoch – als Frau – von ihren Kollegen, zum Beispiel von T. E. Lawrence, der als Lawrence of Arabia durchs westliche Bewusstsein galoppiert, ihre Emotionalität vorgeworfen, sie ändere ihre Ausrichtung „wie ein Wetterhahn“, sagte er, der ihr aber nicht übel gesonnen war.
Ihr Diplomatenkollege Sir Mark Sykes – der mit dem Franzosen George Picot 1916 die künftige Aufteilung des Nahen Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich festschrieb, nur ein Jahr, nachdem die Briten den Arabern für ihren Aufstand gegen die Osmanen die Unabhängigkeit versprochen hatten – hatte eine andere Beschreibung parat: Sie sei ein „flachbrüstiges globetrottendes Mannweib, eine steißwackelnde, schwatzende blöde Kuh“. Auch Ibn Saud (Abdul Aziz Al Saud), der spätere König von Saudi-Arabien, konnte sie offenbar nicht leiden und unterhielt seine Zuhörer mit schrillen Bell-Parodien.
Einen Restposten dieser britisch-französischen Nahostpolitik, Faisal, machte Bell 1921 zum irakischen König, das kann man schon so sagen. Faisal war einer der Söhne des haschemitischen Sharifen von Mekka, den der oben erwähnte Ibn Saud 1926 aus dem Hijaz vertrieb. Faisal war mit Lawrence in Damaskus eingezogen und von dort wieder verjagt worden, weil er sich als König weigerte, das französische Mandat formell anzuerkennen. Als ihm die Briten die irakische Krone anboten, hatte Faisal die Lektion gelernt: Auch inklusive britischem Mandat nahm er sie, unter der etwas koketten Bedingung, dass die Iraker ihn denn auch wirklich wollten.
Schonungslose Analyse
Dafür sorgte Bell: Faisals Fahrt von Basra nach Bagdad wurde zwar nicht zum Triumphzug, aber 96 Prozent Zustimmung brachte das „wohlorganisierte Plebiszit“ danach, wie das der britische Historiker Toby Dodge in Inventing Iraq (Die Erfindung des Irak) nennt, einer schonungslosen Analyse der britischen Präsenz im Irak während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das Buch hat den Untertitel The Failure of Nation Building and a History Denied (Das Scheitern der Nationsbildung und eine verleugnete Geschichte). Dodge zieht auch Vergleiche, nicht so sehr mit der britischen Politik im heutigen Irak – dazu ist sie nicht gewichtig genug –, sondern mit der amerikanischen.
Die Briten waren Ende 1914 in Basra und auf der strategisch wichtigen Halbinsel Faw einmarschiert, als klar wurde, dass das Osmanische Reich auf Seite der Zentralmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eintreten würde. Erst im März 1917 zogen die Briten – genauer gesagt die Mesopotamian Expeditionary Force (MEF) – in Bagdad ein, dazwischen lag die fürchterliche Belagerung und Niederlage von Kut (wo die Briten im Mai 2003 den britischen Militärfriedhof wieder freilegten).
Der „Eroberer“ von Bagdad war General Stanley Maude: 2003 wurde das britische Hauptquartier in der Grünen Zone in Bagdad nach ihm „Maude House“ genannt, da kennen sie nichts, die Briten. Maude starb noch im November 1917 auf dem Vormarsch nach Ramadi und Tikrit an Cholera. 90 Jahre später, im Dezember 2007, wütet im Irak wieder die Cholera. Von den 34.000 Ärzten, die es 2003 im Land gab, sind 2000 ermordet worden und 12.000 ins Ausland geflüchtet. 70 Prozent der Iraker sind ohne adäquate Wasserversorgung, 28 Prozent der Kinder (2003 waren es 19 Prozent) sind unterernährt, da hat die Krankheit leichtes Spiel. Die WHO spricht von 3300 schweren und 33.000 leichteren Fällen.
Aber zurück, Maude hatte nach seinem Einzug in Bagdad eine Proklamation veröffentlichen lassen, in der er den Irakern mitteilte, dass die Briten „nicht als Eroberer und Feinde, sondern als Befreier“ von den Osmanen gekommen waren: „O Volk von Bagdad, denk daran, dass du seit 26 Generationen unter fremden Tyrannen gelitten hast, die immer danach getrachtet haben, ein arabisches Haus gegen das andere zu hetzen, um von eurer Uneinigkeit zu profitieren. Diese Politik ist Großbritannien und seinen Alliierten verhasst ... ” Zu dieser Zeit hatte London die 1914 kurz aufflackernde Idee einer Annexion des Irak längst ad acta gelegt, man stand aber immer noch bei „white man’s burden“, bei der Bürde des weißen Mannes, der Direktherrschaft. Und – ganz wie im Jahr 2003 von den USA – alles, was von den früheren Besatzern übrig war, musste zerschlagen werden, die Verwaltung, die Gesetze, die Wirtschaft. Vorbild für den neuen Irak war die britische Verwaltung in Indien, kurzfristig wurde die indische Rupie sogar zur geltenden Währung.
Es funktionierte nicht recht. Welche Enttäuschung. In ihrer bemerkenswerten Review of the Civil Administration in Mesopotamia, einem Zustandsbericht der britischen Verwaltung, den Rory Stewart mit der Berichterstattung von US-General David Petraeus und US-Botschafter Ryan Crocker 2007 in Washington vergleicht, schreibt Gertrude Bell (die allerdings auch die Briten nicht von der Kritik ausnimmt): „Es hat länger gedauert als angenommen, einige der Schulen in Bagdad wieder zu eröffnen. Die Verspätung ist den Leuten hier selbst zuzuschreiben, die die Möbel und die Ausstattung der Schulen plünderten und Türen, Fenster und alles, was man nur abmontieren konnte, davontrugen.“
1920 wird die Politik des für den Irak zuständigen britischen India Office durch den Ausbruch des Aufstandes diskreditiert. Wie alle späteren irakischen Aufstände im 20. Jahrhundert auch, bleibt die „arabische Revolte“ jedoch unorganisiert, disparat, lokalisiert, bringt aber doch zum ersten Mal, wenn auch nur für kurze Zeit, Sunniten und Schiiten und andere Fraktionen der irakischen Gesellschaft zusammen – ein erster Schritt zu einer irakischen Nation.
„Nicht ewig Weltpolizist“
Die Briten kostet die Revolte 400 Tote und 40 Millionen Pfund. Sie werden ihrer nur mit einem massiven Einsatz von Kampfflugzeugen, inklusive Giftgasangriffen, gegen die Aufständischen Herr. Die Kritik zuhause in London an der Irak-Politik wird lauter, man könne doch nicht ewig „den Weltpolizisten spielen“. Die Opposition spricht von „imperialistischer Überdehnung“.
Ein Staat muss her und ein König. Bell setzt sich mit aller Kraft dafür ein, dass zu den ehemaligen osmanischen Provinzen Basra und Bagdad auch das Vilayet Mossul zum Irak kommt, hauptsächlich aus demographischen Gründen: Sie setzt auf die Sunniten, die ihr, obwohl in der Minderheit, als die „natürlichen Herrscher“ des Irak erscheinen, und mit Mossul wird dem Irak eine schöne Portion Sunniten einverleibt (sie erlebt es noch: Der Völkerbund schlägt Mossul dem Irak 1925 definitiv zu).
Über Bells Vorurteile gegen die Schiiten lässt sich lange diskutieren: Liora Lukitz arbeitet in ihrer neuen Bell-Biographie A Quest in the Middle East – Gertrude Bell and the Making of Iraq (Ein Streben im Nahen Osten – Gertrude Bell und die Erschaffung des Irak) ganz gut heraus, dass es Bells Wut auf die „Mujtahidun“ ist, die schiitischen Rechtsgelehrten, die den neuen Staat und seine Führung ablehnen, weil er über die Köpfe des Klerus hinweg geschaffen wurde. Bell will die schiitischen Stammesführer von ihrer Furcht vor diesen „Teufeln“, wie sie sagt, befreien. Faisal lässt etliche von ihnen in den Iran deportieren, ein historisches Beispiel, auf das später Saddam Hussein zurückgreifen wird, allerdings deportiert er gleich Zehntausende.
Zweifellos ist Bell von den sunnitischen Stereotypen über die Schiiten beeinflusst, die man auch heute hört, sunnitische Ordnung gegen schiitisches Chaos, lieber 60 Jahre Tyrannei als einen Tag Aufruhr, wie sollen diejenigen ein Land regieren können, deren Führer – der zwölfte Imam, der Mahdi – sich dadurch auszeichnet, dass er seit dem 9. Jahrhundert verschwunden ist und seine Gemeinde verwaist hinterlässt?
Die Briten wollen Führer, mit denen sie reden können. In einer völligen Reversion der osmanischen Stammespolitik, die die tribalen Systeme dem staatlichen zu unterwerfen suchte, übertragen sie kooperationswilligen sunnitischen Stammesscheichs immer mehr Verantwortung und Gewalten. Das ist übrigens auch billiger als das teure britische Personal. Und es passt mit Bells (und anderer) Sicht des Orients zusammen: In einer ruralen, vormodernen Gesellschaft braucht es einen Mediator zwischen Staat und Bevölkerung, den starken Stammesscheich, der aus einer „sauberen“ arabischen Gesellschaft kommt, nicht aus den korrupten Städten mit ihren verweichlichten Bürgern.
Diese Intellektuellenfeindlichkeit wird weitreichende Folgen für die Entwicklung der irakischen Gesellschaft haben, die städtischen Eliten, mögliche Träger der Moderne, werden marginalisiert. Um den Stammeschef an den Staat zu binden, ist dann auch Rücksicht zu nehmen auf „tribale Gefühle“, und diese Rücksicht drückt sich in der von den Briten 1918 abgesegneten Tribal Criminal and Civil Disputes Regulation (etwa: Rechtsvorschrift zur Regelung von straf- und zivilrechtlichen Streitfällen bei Stämmen) aus, was nichts anderes heißt, als dass für die Stämme – und da kann man nicht einfach austreten – andere Gesetze gelten als im irakischen Recht.
Saddam Hussein macht nach dem Golfkrieg 1991, als es ihm Staat, Partei und Familie nach und nach zerbröselt, etwas ganz Ähnliches wie die Briten: Er überträgt den Stammeschefs wieder die Judikatur in gewissen Bereichen. In Familienangelegenheiten werden wir doch keinen Richter brauchen! Und sie bekommen Geld, Waffen und Land.
Alles war schon einmal da. Aus Bagdad schreibt ein Freund, dem ich meine Bedenken über die neue US-Politik der Aufrüstung von Stammeschefs mitteile: „Unsere Gäste (er meint die Amerikaner) werden sehr nervös, wenn jemand ihre Intention in Frage stellt oder das Programm (die Bewaffnung von Stammesmilizen) gar kritisiert.“ Längst sind bei den Schiiten Verschwörungstheorien unterwegs, die in der amerikanischen Politik die Aufrüstung der Sunniten für einen künftigen Bürgerkrieg – nach dem Abzug der Amerikaner – sehen. Als Kenner der Verhältnisse tendiert man eher dazu, als erstes Motiv der Amerikaner Verzweiflung anzunehmen. Und angesichts der Resultate – ist die Gewalt nicht im Sinken? – kommt dann wieder die Einstellung, ja doch Recht gehabt zu haben.
Faisal, Gertrude Bells König, hat die Unabhängigkeit des Irak 1932 noch erlebt (er starb 1933). Toby _Dodge konstatiert, dass die Briten damals eine Aufnahme des Irak in den Völkerbund durchsetzten – um das Mandat für ihn loszuwerden –, obwohl sie sehr gut wussten, dass der Staat nicht auf eigenen Beinen stehen konnte. Wenn die Briten heute unter Gratulationen aus Basra abziehen, ist es nicht viel anders, aber es gibt auch keine Völkerbundmandate mehr. Klar ist, dass in den fünf Nachkriegsjahren auch im Süden des Irak keine Institutionen geschaffen werden konnten, die als Rückgrat für eine effiziente, rechtsstaatliche Verwaltung dienen könnten – und dabei reden alle von Föderalismus. Der Süden hat eine realistische Chance verpasst, der böse sunnitische Aufstand fand ja woanders statt.
Würdige Nachfahren der Gertrude Bell – im Sinn, dass sie das, was geschehen ist, als das bezeichnen, was es ist, nämlich als Scheitern – gibt es auch. Dass die britische Regierung die Veröffentlichung der Memoiren von Sir Jeremy Greenstock, des ersten britischen Sondergesandten im Irak nach dem Fall Saddam Husseins, verhindert hat, zeigt, dass auch London „sehr nervös“ ist. (DER STANDARD, ALBUM, 15./16.12.2007)
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