und was sehen meine Augen:
Nervosität in den Palästen
Von Andrea Böhm
Immer öfter ahnden Gerichte die Verbrechen von Präsidenten, Ministern und Generälen – solange außenpolitische Interessen sie nicht daran hindern.
Das 16. Arrondissement ist das teuerste Pflaster in Paris. Wer sich hier eine Wohnung leisten kann, zählt zu den Superreichen, im frankophonen Afrika auch les grandes légumes, »das Großgemüse«, genannt. Gleich vier Apartments besitzt hier die Familie des gabunischen Staatschefs Omar Bongo. In unmittelbarer Nachbarschaft hat sich Denis Sassou-Nguesso eingerichtet, Präsident der Republik Kongo. Die zwei haben außer teuren Immobilien noch mehr gemeinsam: Sie sind seit über zwanzig Jahren an der Macht und gelten als feste Größen der französisch-afrikanischen Freundschaft; ihre Länder exportieren Erdöl; die Mehrheit der Bevölkerung ist bettelarm, während Bongo und Sassou-Nguesso im Ruf stehen, sich aus der Staatskasse zu bedienen. Ein Pariser Gericht hat nun gegen die zwei amtierenden Staatschefs Vorermittlungen wegen Verdachts auf Veruntreuung eingeleitet. In der europäischen Justizgeschichte ist dies ein Novum, fürs afrikanisch-französischen Verhältnis brachte es eine spürbare Missstimmung: »Rassistisch und kolonialistisch« sei dieses Verfahren, zürnte Sassou-Nguesso.
Der Mann, der den beiden Präsidenten die Aussicht auf den Eiffelturm verleiden möchte, heißt William Bourdon, ist 51 Jahre alt und Gründer des Juristenverbandes Sherpa. Mit Menschenrechtsorganisationen und afrikanischen Exilanten hat Sherpa das offizielle Präsidentensalär von Bongo und Sassou-Nguesso recherchiert und, so Bourdon, festgestellt, »dass das nie und nimmer für Wohnungen in dieser Preislage reicht«. Ob im Fall Bongo und Sassou-Nguesso tatsächlich ein Strafverfahren eröffnet wird, bleibt abzuwarten. Aber Bourdons juristische Attacke ist Teil eines neuen Phänomens: der Globalisierung der Strafjustiz von unten. In den vergangenen Jahren ist ein multinationales Netz aus Anwaltskanzleien, Finanzexperten und Bürgeraktivisten entstanden, die über Landesgrenzen hinweg Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Plünderung von Rohstoffen nicht nur anprangern, sondern vor Gericht bringen – auch Tausende Kilometer vom Tatort entfernt.
Wegbereiter dieser Entwicklung waren zweifellos die internationalen Gerichte, also die Globalisierung der Strafjustiz von oben – angefangen von den UN-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda über den Sondergerichtshof für Sierra Leone bis zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Die Schaffung dieser Institutionen markierte eine historische Zäsur: Die Unantastbarkeit nationaler Souveränität wird dem Völkerstrafrecht untergeordnet; Staats- und Regierungschefs und ihre Minister genießen keine absolute Immunität mehr; Offiziere und Rebellenführer können sich nicht mehr in ihrem Land sicher fühlen.
Serbien kooperiert nun mit dem UN-Gericht – und hofft auf Vorteile
Dieser Wandel im System internationaler Beziehungen erscheint inzwischen so normal, dass größere Präzedenzfälle und kleinere Sensationen kaum noch auffallen: Das internationale Sondergericht für Sierra Leone hat vor wenigen Wochen drei Angeklagte wegen Rekrutierung von Kindersoldaten verurteilt – eine Premiere in der internationalen Rechtsgeschichte. Im Libanon hat der Sicherheitsrat zum ersten Mal die Bildung eines UN-Tribunals zur Aufklärung eines Einzelfalls beschlossen: des Mordes am ehemaligen Premierminister Rafik Hariri. In Washington signalisiert die Bush-Regierung nach Jahren kompromissloser Gegnerschaft des Internationalen Strafgerichtshofs, nun dessen Ermittlungen im Fall Darfur zu unterstützen. Und in Den Haag kommt endlich der Prozess gegen Liberias Expräsidenten Charles Taylor in die Gänge. Vor allem der Fall Taylor – genauer gesagt: die Auslieferung des Expräsidenten an das Gericht im Frühjahr 2006 nach drei Jahren Exil – ließ einige afrikanische Amtskollegen unruhig werden. »Das heißt ja, dass jeden Staatschef das gleiche Schicksal ereilen kann«, erklärte halb empört, halb besorgt Libyens Staatschef Muammar al-Gadhafi, der Taylor einst mit Waffen und Ausbildern versorgt hatte.
Schlägt nun allen Schlächtern und Diktatoren die Stunde des Rechts? Man sollte sich von der Nervosität in den Palästen nicht blenden lassen. Die internationale Strafjustiz ist (noch) lange keine unabhängige dritte Gewalt auf globaler Bühne. Sie ist zunächst einmal Ergebnis aktueller politischer Machtverhältnisse. Das UN-Tribunal für Ruanda zum Beispiel hat (nach großen Anfangsproblemen) im Zusammenhang mit dem Völkermord an 800000 Tutsi zwar über 20Angeklagte schuldig gesprochen, darunter den ehemaligen Premierminister und mehrere Kabinettsmitglieder. Ermittlungen wegen Racheakten von Tutsi-Milizen wurden jedoch von der Regierung in Kigali erfolgreich blockiert. Die neue Regierung Serbiens wiederum erhofft sich von ihrer zunehmenden Kooperation mit dem UN-Jugoslawien-Tribunal Zugeständnisse bei einer möglichen Unabhängigkeit des Kosovos.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGh) in Den Haag ist gerade fünf Jahre alt geworden, doch statt Blumen überbrachten Menschenrechtsorganisationen deutliche Kritik am argentinischen Chefankläger Luis Moreno-Ocampo. Der nehme zwar kleinere Rebellenführer ins Visier, scheue sich aber, gegen hohe Regierungsbeamte und Minister zu ermitteln.
Konzentriert sich die Justiz wieder einmal nur auf die kleineren Sünder?
Vier Fälle hat der Gerichtshof derzeit in Arbeit, gegen acht Personen hat Moreno-Ocampo Anklage erhoben und Haftbefehle ausgestellt. Ein Angeklagter, der kongolesische Warlord Thomas Lubanga, sitzt in Untersuchungshaft. Das klingt tatsächlich mager für die ersten fünf Jahre des einzigen ständigen Gerichts der Welt, das Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden soll. Nur ist das nicht allein die Schuld des Chefanklägers, sondern der Struktur des Gerichts. Der IStGh hat keine Polizei, um Verdächtige und Angeklagte festzunehmen. Er ist auf die Kooperationsbereitschaft jener Staaten angewiesen, in denen er ermittelt. Und diese Ermittlungen können im Zweifelsfall durch politische Ereignisse überholt werden. Genau das geschieht derzeit in Uganda. Dort fordern die Führer der Lord’s Resistance Army (LRA), einer berüchtigten Rebellenarmee, in den Friedensverhandlungen mit der Regierung die Rücknahme der Haftbefehle des IStGh – und womöglich wird sich das Gericht dem Druck der internationalen Vermittler beugen. Der Grundsatz »Kein Frieden ohne Gerechtigkeit« würde in diesem Fall umgewandelt in das Motto: »Lieber Frieden als Gerechtigkeit«.
Den größten Schaden hat die globale Strafjustiz in den vergangenen Jahren aber nicht durch ugandische Friedensverhandlungen oder Fehlentscheidungen der Ermittler genommen, sondern durch den »Krieg gegen den Terrorismus«. Aus Sicht der US-Administration rechtfertigt der Kampf gegen al-Qaida, das Völkerrecht auf Eis zu legen und Verbündete in diesem Krieg nicht nach ihrer Haltung zu Menschenrechten auszuwählen, sondern nach ihrem taktischen Nutzen. So kam das Bündnis des Westens mit einigen der schlimmsten Warlords in Afghanistan zustande – eine Entscheidung, die sich für den Wiederaufbau des Landes als verheerend erwiesen hat. Der IStGh ist in diesen Fragen machtlos, weil weder die USA noch Afghanistan oder der Irak zu seinen Vertragsstaaten gehören und sich damit außerhalb seiner Jurisdiktion befinden.
Seither taucht immer wieder ein anderes völkerrechtliches Instrument in den Schlagzeilen auf: das Weltrechtsprinzip, wonach Genozid, Massaker, Folter und ähnlich schwerwiegende Verbrechen in einem Staat auch vor Gerichten anderer Staaten verhandelt werden können. Darauf berief sich 1998 der spanische Richter Baltazar Garzón, als er Großbritannien dazu brachte, den chilenischen Exdiktator Augusto Pinochet in Auslieferungshaft zu nehmen. Dieses Prinzip fürchtete die Bush-Regierung so sehr, dass sie 2003 dem belgischen Parlament den Abzug des Nato-Hauptquartiers aus Brüssel androhte, falls Belgien nicht sein weitreichendes Gesetz zum Weltrechtsprinzip einschränkte. Was dann auch geschah.
Nach diesem Prinzip ging – und hier kommt nun das neue Netz aus Menschenrechtsaktivisten ins Spiel – auch der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck vor, als er bei der deutschen Generalbundesanwaltschaft Anzeige gegen den damaligen amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Verstoßes gegen das Folterverbot erstattete. Die Anzeige wurde zweimal abgelehnt. Aber Kaleck hat Rechtsmittel eingelegt und mit Kollegen aus dem europäischen Ausland das European Center for Constitutional and Human Rights gegründet. Das ECCHR will auf dem Rechtsweg Menschen- und Grundrechte verteidigen, aber auch Fälle von Rohstoffplünderung, Waffenhandel oder Korruption untersuchen. Das Weltrechtsprinzip wird dabei weiterhin eine große Rolle spielen. Mehr noch als jeder Prozess vor einem internationalen Tribunal zeigt es, wie ernst es nationale Regierungen mit dem Völkerrecht wirklich meinen. Deutschland hat sich da weder im Fall Rumsfeld noch im Fall des usbekischen Innenministers Almatow mit Ruhm bekleckert, der als Hauptverantwortlicher eines Massakers an Zivilisten im usbekischen Andischan im Mai 2005 gilt. Trotz EU-Einreiseverbot durfte sich Almatow in Deutschland in ärztliche Behandlung begeben – und unbehelligt ausreisen, nachdem Kaleck und amnesty international Strafanzeige gegen ihn gestellt hatten.
Womit man wieder bei Denis Sassou-Nguesso angelangt wäre, dem kongolesischen Präsidenten. Der steht in Frankreich nicht nur unter Korruptionsverdacht. Seit Dezember 2001 versucht der Anwalt William Bourdon, einen Prozess gegen Sassou-Ngessou und seinen Polizeichef wegen eines Massakers in Brazzaville 1999 anzustrengen. Für kurze Zeit hatte Bourdon den Polizeidirektor, der ebenfalls Immobilien in Frankreich besitzt, sogar in Untersuchungshaft genommen – aus der dieser aber mit freundlicher Unterstützung des französischen Außenministeriums entlassen wurde. Das geschah während der Amtszeit von Jacques Chirac, doch wer von seinem Nachfolger Nicolas Sarkozy eine neue Politik erhofft hatte, sah sich vergangene Woche enttäuscht. Da empfing der neue französische Präsident im Élysée-Palast den alten Freund Frankreichs, Denis Sassou-Nguesso. Was die Vorwürfe der Veruntreuung betraf, zeigte sich der kongolesische Präsident verständnislos. »Fast jeder Staatschef hat in Frankreich ein Schloss oder eine Villa. Warum hat man mich herausgepickt?«
DIE ZEIT, 12.07.2007 Nr. 29
http://www.zeit.de/2007/29/Strafjustiz?page=all