metal1.info hat geschrieben:
Der große Knall – Nuclear Blast und Atomic Fire Records
„Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen
und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen:
das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“ – Karl Marx
Im Jahr 2001 wurde Noise Records, dessen Roster in den ’80er- und ’90er-Jahren die Rock- und Metal-Szene geprägt hat, Teil der Sanctuary Group. Wenige Jahre später wurde diese von Universal geschluckt und kurzerhand geschlossen. Das Ende eines großen deutschen Metal-Labels, eine Tragödie. Mit NUCLEAR BLAST RECORDS, spätestens seit den 2000er-Jahren das Aushängeschild der deutschen Metal-Labels, scheint sich die Geschichte nun zu wiederholen – nur eben, um mit Marx zu sprechen, als lumpige Farce.
2018 übernahm der französische Konzern BELIEVE DIGITAL als neuer Mehrheitseigner der NUCLEAR BLAST GmbH das Zepter in Donzdorf. Der Übergang lief alles andere als reibungslos – und doch schien noch 2020, als wir für den Artikel „Nuclear Blast – Heuschreckenplage in Donzdorf?“ recherchierten, auch ein positiver Ausgang für NUCLEAR BLAST denkbar. Eineinhalb Jahre später scheinen für manche die Würfel gefallen: „Es gibt kein NUCLEAR BLAST mehr. Das ist jetzt BELIEVE. Ein Digital-Anbieter – und genauso wird jetzt auch gearbeitet. Der Name NUCLEAR BLAST wird nur benutzt, um die Fanbase zu halten“, konstatiert ein renommierter Musiker aus dem Label-Umfeld gegenüber Metal1.info.
Das Besetzungskarussell dreht sich
Schon bald nach dem Einstieg von BELIEVE DIGITAL bei NUCLEAR BLAST mussten oder wollten viele der Köpfe hinter dem Erfolg der Donzdorfer Plattenfirma das Unternehmen verlassen. Dergleichen ist in Zeiten des Umbruchs ganz normal – doch die Personalrochade scheint kein Ende zu nehmen: Antje Lange (ehemals Noise Records und Century Media), die erst im Oktober 2019 in einem Aufwasch mit Jens Prüter (Head of A&R Europe, zuvor ebenfalls bei Century Media tätig) als Chief Operating Officer und damit zentraler Baustein der neuen Firmenstruktur vorgestellt worden war [1], hat NUCLEAR BLAST schon wieder den Rücken gekehrt. Und auch Yorck Eysel, der erst 2018 neben Marcus Hammer zum Geschäftsführer von NUCLEAR BLAST ernannt wurde, ist nicht mehr in dieser Funktion tätig [2]. Hammer selbst werde sich künftig als Managing Director der deutschen Niederlassung um die „geeignete Finanzstruktur der Künstler-Deals“ und „die Optimierung ihrer Verträge“ kümmern, hieß es in einem BELIEVE-Statement vom 2. Februar 2021 [3] – als Teil eines neu formierten europäischen Managementteams.
Dieses besteht neben Hammer aus Gerardo Martinez (seit 20 Jahren bei NUCLEAR BLAST, zuletzt und weiterhin General Manager USA) und Jérôme Riera (zuletzt Head of European Label Strategy, nun European Label Manager) [3]. Damit ist der Franzose Riera nun der Kopf der Kreativabteilung. Von Hamburg aus soll er den direkten Draht zwischen allen europäischen Künstlern und Managern zum Labelmanagement sicherstellen [4]. Bei BELIEVE gibt man sich einmal mehr zuversichtlich: „Ich bin fest davon überzeugt, dass das neue Managementteam das richtige ist, um NUCLEAR BLAST noch erfolgreicher zu machen“, wird Thorsten Freese, Geschäftsführer BELIEVE DIGITAL Deutschland, in der MusikWoche zitiert [3]. Aus dem NUCLEAR-BLAST-Roster hört man aber auch kritische Stimmen: Dass über vieles mittlerweile nicht mehr in Donzdorf, sondern in Hamburg beschieden würde, habe alles behäbiger gemacht – und durch die Internationalisierung seien Prozesse und Arbeitsabläufe umständlicher geworden. Der „Hauptentscheider“ sitze nun eben in Paris: „Am Ende segnen die alles ab und kürzen überall zusammen.“
Derartige Entwicklungen hat die Metal-Szene wie eingangs erwähnt nur allzu oft miterlebt. Ein Branchenkenner resümiert: „Jedes Mal gibt es erst Dementi, und jedes Mal kommt all das dann doch: Erst wird [die Personalstruktur] mit Leuten aus der Stammfirma durchsetzt, dann kommt die räumliche Änderung – ob Berlin [Century Media – A. d. Red.] oder Hamburg [NUCLEAR BLAST] … und immer wird es mehr Corporate. Musik oder Kunst allgemein ist aber nicht ‚Corporate‘ – Metal ist eine geile Familie!“ Ebendieses Familiäre, das Zwischenmenschliche in der Zusammenarbeit, habe arg gelitten, wie ein anderer Insider berichtet: „Wenn dir als Musiker alles egal ist, solange der Vorschuss und die Zahlen stimmen, dann ist das vielleicht etwas anderes, aber ich habe immer gern im Team gearbeitet und mich eingebracht. Wenn das auf der Strecke bleibt und statt dem zusätzlichen Promoter lieber ein Controller eingestellt wird, dann ist das für mich schon ein bisschen merkwürdig.“
Digital über alles
Das alles klingt nach weit mehr Einflussnahme als der von Marcus Hammer gegenüber Metal1.info 2020 geäußerten Hoffnung auf „Anregungen und Denkanstöße [durch BELIEVE], wie man Dinge eventuell besser und noch mehr zukunftsgerichtet angehen und ändern“ könnte [5]. Vielmehr hat sich unter BELIEVE DIGITAL die gesamte Unternehmensausrichtung um 180 Grad gedreht: Der Firmenname ist nämlich weit mehr als bloß ein Glaubensbekenntnis zum digitalen Markt. Er manifestiert sich zugleich in einer radikalen Abkehr vom physischen Produkt.
Während klassische Labels darauf ausgerichtet sind, Tonträger zu produzieren und zu vertreiben, ist dem Digitalanbieter BELIEVE daran gar nicht gelegen: „Es wird immer mehr in die digitale Ecke verlagert, das physische Geschäft wird zähneknirschend mitgemacht“, heißt es aus Insiderkreisen. CDs und Schallplatten verursachen schließlich Lager-, Vertriebs- und Personalkosten, zudem besteht immer das Risiko, auf Ware sitzen zu bleiben – für ein Digitalunternehmen keine verlockende Vorstellung. In der Konsequenz hält NUCLEAR BLAST, so wird berichtet, die Auflagen nun möglichst gering, um alles sofort ab- oder auszuverkaufen – zum Nachteil der Musiker. Vinyl nachzupressen dauert derzeit mindestens ein halbes Jahr, die möglichen Verkäufe in der ersten Woche sind also limitiert. Damit verliert die Band nicht nur bares Geld bei den Tantiemen, die bei Tonträgern in der Regel höher sind als beim Streaming, sondern auch Chartplätze. Die Platzierung in der Verkaufsrangliste ist aber nach wie vor ein wichtiger Faktor für Gagen- und Vorschussverhandlungen mit Festivals oder Labels.
Im Unternehmenssprech von Thorsten Freese klingt das natürlich anders: Man wolle sich noch stärker auf innovative Strategien im Heavy Metal ausrichten [3]. In einer internen E-Mail von BELIEVE an Artists und Labels, die Metal1.info vorliegt, wird erkenntlich, wie BELIEVE sich selbst sehen: als „weltweit führende disruptive digitale Entwicklungsplattform“. Disruptiv heißt übrigens „zerstörend“; disruptive Technologien sind Innovationen, die bestehende Produkte vollständig vom Markt verdrängen oder etablierte Systeme grundlegend verändern [6]. Wie das aussehen kann, zeigt sich am Beispiel der Anfang 2020 lancierten digitalen Vertriebsplattform Blood Blast Distribution – dem „ersten weltweiten digitalen Vermarktungsangebot für extreme Musik“, wie es auf der Homepage heißt. Physische Produkte sind im Geschäftsmodell nicht vorgesehen.
Zumindest im klassischen Metal scheint die „Digital-First“-Strategie nicht zielgruppenorientiert: „Bei Bands wie Eskimo Callboy, deren Fans vermutlich nur noch streamen, kann das klappen – aber nicht bei Bands wie Asphyx oder Accept. Deren Fans kommen einfach noch aus einer anderen Generation“, beurteilt ein Bandmanager die Lage. Tatsächlich machen viele der großen Metal-Bands nach wie vor 70–90 % ihres Umsatzes mit physischen Tonträgern. „Meine Band könnte ohne CDs und Vinyl nicht überleben“, macht ein Musiker aus dem klassischen Metal auf Nachfrage deutlich. Dass die Szene da ihren eigenen Gesetzen folgt, weiß auch ein Produzent zu berichten: „Mag sein, dass beim Hip-Hop ein klarer Trend dahin geht, Musik mit einem Abo auf dem Handy zu hören. Aber unser Business funktioniert anders. Bei uns produziert keiner eine Platte, damit die jemand auf dem Handy hört.“ Entsprechende Ratschläge sollen bei den Szene-Neulingen von BELIEVE jedoch auf taube Ohren gestoßen sein. „Die haben vom Fan-Dasein schlicht keine Ahnung – aber genau darum geht es in dem Business“, erklärt ein Insider.
Damit das Business trotzdem funktioniert, versuchen BELIEVE nicht ihre Strategien an die Metal-Kultur anzupassen, sondern den Metal an ihre Strategie: „Gewünscht werden Bands, die sich gut digital vermarkten lassen – dann wird eben eher eine Alternative-Rock-Band als eine Death-Metal-Combo unter Vertrag genommen“, berichten Insider. Passt eine Band aus dem Label-Roster partout nicht zum digitalen Konzept, enden selbst jahrzehntelange Kooperationen abrupt. Die jüngsten Abgänge treuer Label-Bands wie Nile, Destruction oder Rage sprechen hier Bände.
Manch ehemaliger, aber auch aktueller Mitarbeiter ist entsprechend desillusioniert. Mit dem Label von früher habe das alles nichts mehr zu tun, hört man hier: „Es sind eben keine Metaller, da haben wir andere Werte und Ideale.“ Oder auch: „Das sind Geschäftsmänner, denen es egal ist, ob sie mit Schuhen oder Musik Geld verdienen.“ Die Prognose, die abgegeben wird, klingt entsprechend düster: „Ein gutes Ende kann und wird das nicht geben, das läuft entgegen jeglicher Vernunft …“
„Andere Werte“ – im wahrsten Sinne des Wortes
Warum hat der französische Großkonzern, der 2020 einen konsolidierten Umsatz von 441,4 Mio. Euro (vs. 394,5 Mio. Euro 2019), aber unterm Strich einen Verlust von 26,9 Mio. Euro (vs. 4,6 Mio. Euro Gewinn 2019) erwirtschaftete [7], dann überhaupt eine achstellige Summe [8] in NUCLEAR BLAST investiert [9]? Die Antwort dürfte erneut rein finanzieller Natur sein. „Entgegen jeglicher Vernunft“ läuft die ganze Entwicklung nämlich nur, wenn man im Interesse der Szene denkt – doch mit der hat BELIEVE bekanntlich wenig am Béret.
2015 bekamen BELIEVE rund 50 Mio. Euro Wachstumsfinanzierung von der US-Investmentgesellschaft Technology Crossover Ventures (TCV), einem der größten Anteilseigner an Spotify [10]. Mit ehemals 49,64 % (heute: 41 %) ist TVC größter Anteilseigner von BELIEVE [11]. 2017 scheiterte ein Verkauf von BELIEVE an Sony, wohl auf der Zielgeraden. Der damals angepeilte Preis für die Anteilsmehrheit wurde auf 350 Mio. Euro geschätzt [12]. Im Juni 2021 wählte BELIEVE nun einen anderen Weg, um Geldmittel zu akquirieren – den Gang an die Börse.
Auch wenn es im Kontext dieser Geschäfte nur ein kleiner Baustein ist: Zukäufe wie das erfolgreiche Traditionsunternehmen NUCLEAR BLAST sollen Vertrauen in den Unternehmenswert schaffen. „Wenn das Ziel ist, als Aktiengesellschaft an die Börse zu gehen, braucht man guten Stoff innerhalb der Firma, um den Börsengang auch interessant zu machen. NUCLEAR BLAST hat in der Szene noch immer einen sehr guten Namen, das ist eine funktionierende, gewinnbringende Firma. Wenn man sich das einverleibt, hat man neue Argumente, um an der Börse Punkte zu machen – oder eben erstmal an die Börse zu kommen.“ Eine große Rolle spielt dabei nicht nur, wofür der Name NUCLEAR BLAST steht, sondern auch, worauf er schon steht: „Der Backkatalog ist immer ein großes Kapital. Da sind ja Bands dabei, die sind richtige Werte. Das ist schon von enormer Wichtigkeit: Ganze Firmen haben sich teilweise durch Backkataloge finanziert“, erklärt ein Insider. „Mit geschickter Strategie kann man schon zu Geld kommen. Oder die Firma so interessant machen, dass man sogar BELIEVE wieder verkaufen kann, an größere Konzerne wie Google, Apple oder dergleichen.“ In diesem Kontext lässt ein Satz aus einer E-Mail von BELIEVE an die Artists und Labels vom 10. Mai 2021 aufmerken, die Metal1.info vorliegt: „Dieser Schritt [Börsengang] ist eine von mehreren Finanzierungsmöglichkeiten, die wir prüfen. Es kann durchaus sein, dass die Entwicklung der Marktbedingungen dazu führt, dass wir auch andere Finanzierungswege untersuchen. BELIEVE ist hier in einer starken Position und wir werden aus den verschiedenen Optionen die beste auswählen.“
Mit dem Sprung an der Pariser Börse Euronext im Juni 2021 wurden über den Verkauf von 15 % der Firmenanteile etwa 300 Mio. Euro für weiteres Wachstum eingesammelt, die den Unternehmenswert auf etwa 2 Mrd. Euro angehoben haben [8, 13]. So gut wie erhofft lief die Sache allerdings nicht: „Dieser Börsengang ging richtig in die Hose“, titelte etwa das Branchenmagazin Der Aktionär [14]. In der Tat: Das Interesse der Anleger hielt sich arg in Grenzen. Statt wie erhofft im Wert zu steigen, musste die Aktie bereits am ersten Handelstag kräftige Abschläge hinnehmen, zwischenzeitlich sank das Papier um rund 20 % – und das, obwohl der Ausgabewert mit 17,42 Euro am unteren Ende der zuvor festgelegten Spanne lag. Zwar hat sich die Aktie unterdessen in etwa auf dem Ausgabewert eingependelt – zufrieden dürfte damit bei BELIEVE jedoch niemand sein [15].
Bei solchen Summen und Kalkulationen wird schnell klar: Die Entwicklung von Bands und die Vermarktung einzelner Releases aus einem Nest irgendwo im Nirgendwo von Baden-Württemberg heraus steht nicht gerade im Fokus des internationalen Konzerns. Waren Reviews und Interviews ein wichtiger Baustein in der Promotion neuer (physischer) Releases, wird die einschlägige Musikpresse mittlerweile eher stiefmütterlich behandelt. Auch die Anzeigendichte in Printmagazinen nimmt weiter ab. Und schaut man auf die neuesten Abgänge und Signings, merkt man, dass Napalm Records auf dem besten Wege ist, NUCLEAR BLAST in absehbarer Zeit den Rang als wichtigstes Metal-Label abzulaufen.
Dass sich der über Jahrzehnte aufgebaute Roster von NUCLEAR BLAST nach wie vor beeindruckend(er) liest und Szenegrößen wie Sabaton [16] beziehungsweise Behemoth [17] unlängst ihre Verträge verlängert oder die Zusammenarbeit sogar ausgebaut haben, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass man in Donzdorf zuletzt vielversprechende Newcomer wie Kadavar, The Vintage Caravan, The Spirit oder Mantar vergrault hat – während Napalm Records etwa mit Jinjer, Lord Of The Lost oder Alien Weaponry zeigt, wie man erfolgreich neue Bands aufbaut. Und dass vergleichsweise wenigen namhaften Zugängen 2021 (Watain, Blood Red Throne, Massacre, Beyond The Black, The Halo Effect) etliche renommierte Bands als Abgänge gegenüberstehen: Destruction, Rage und Nile etwa (alle zu Napalm Records) sowie Memoriam (zu Reaper Entertainment, betrieben von zwei Ex-NUCLEAR-BLAST-Mitarbeitern) – vor allem aber Amorphis, Helloween, Opeth, Sonata Arctica, Meshuggah, Primal Fear, Agnostic Front, Rise Of The Northstar, Silver Lake, White Stones und Michael Schenker Group, die nach dem Einstieg von BELIEVE allesamt lieber von einer gewissen NUCLEAR BLAST TONTRÄGER PRODUKTIONS- UND VERTRIEBS GMBH (im Folgenden: NBTT) vertreten werden wollten.
Digital vs. Tonträger
Hinter diesem etwas sperrigen Namenskonstrukt verbarg sich bis zum endgültigen Split mit NUCLEAR BLAST im Oktober 2021 ein Firmenteil, den NUCLEAR-BLAST-Gründer Markus Staiger nicht an BELIEVE verkauft hat: Und wie um allen zu beweisen, dass CDs und LPs im Metal noch lange nicht tot sind, hängte sich Staiger mit einem kleinen Team aus ehemaligen NUCLEAR-BLAST-Mitarbeitern hier nochmal voll rein.
Mit den genannten Bands konnte Staiger durchweg hochwertige Combos aus dem NUCLEAR-BLAST-Roster hin zu NBTT lenken. Das dürfte ihm allerdings auch nicht schwergefallen sein – schon weil das BELIEVE-geführte NUCLEAR BLAST sich um so manche Band nicht wirklich bemüht hat, wie einer der betroffenen Musiker berichtet: „Ich bekam von Markus das Angebot, auf seine Seite zu wechseln – und von der anderen Seite kam nichts.“ Das ehrliche Interesse an den Menschen hinter der Musik zeichnet Staiger seit jeher aus: Bei Vertragsverhandlungen bekamen Bands darum meist nicht nur Büroräume, sondern auch Staigers imposant bestückten Flipperraum zu sehen. Eine Herangehensweise, die sich in Vertrauen auszahlt – in Staigers Leute, nicht in einen Firmennamen: „Wir haben eine lange und tolle Geschäftsbeziehung mit Markus Staiger und seinem alten Team.“
Staigers Aufbäumen gegen den selbst an Bord geholten Goliath kann man durchaus auch kritisch sehen, wie ein langjähriger Wegbegleiter deutlich macht: „Wenn ich die Entscheidung fälle, dass ich mein Lebenswerk verkaufe, muss ich damit rechnen, dass ein Unternehmen, das eigentlich nichts mit Metal am Hut hat, Veränderungen vornimmt. Die, die jetzt das Sagen haben, haben das Sagen. Und wenn die den Karren gegen die Wand fahren, fahren sie den Karren gegen die Wand.“ Aber er weiß auch, wie schwer es einem Macher wie Staiger fällt, loszulassen: „Wenn du so lange und erfolgreich in dem Business warst wie Markus, so viel richtige Entscheidungen getroffen hast, dann kannst du nicht einfach loslassen. Dann fängst du eben wieder an, mit deinen zehn Bands und einer gute Truppe was aufzuziehen und weiter geile Sachen [zu] machen – klein, aber fein. Der Reiz, da auch weiterhin gute, erfolgreiche Arbeit abzuliefern, ist ja auch unangenehm groß.“
Zumindest aber der Erfolg gibt Staiger recht: Das 2020 über NBTT veröffentlichte Album „Metal Command“ von Primal Fear war die erfolgreichste Platte in der Karriere der Band (Platz 7 der deutschen Album-Charts) und auch Michael Schenker erreichte die deutschen Top Ten. Helloween schafften das mit ihrem selbstbetitelten Reunion-Album sogar in zehn Ländern, darunter auf Platz 1 in Deutschland und Spanien, Platz 2 in der Schweiz und Platz 3 in Österreich. Markus Staiger kommentierte den Erfolg von Helloween wie folgt: „Die Nummer #1 in Deutschland und Spanien sind sensationell und ohnehin sind alle Ergebnisse ein hochverdienter Ritterschlag für die Band und diesen Meilenstein. Ich bin stolz auf unser Team und alle Freelancer, national und international, die überall großartige Arbeit geleistet haben, auf die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Band Management Bottom Row sowie einmal mehr: der Band und jedem einzelnen Musiker für dieses gigantische Album!“ [sic; 20] Dass er die Namen NUCLEAR BLAST oder BELIEVE hier mit keinem Wort erwähnt, dürfte kein Zufall sein.
Obwohl BELIEVE DIGITAL zumindest noch für den Vertrieb der NBTT-Produkte zuständig war und entsprechend von den Erfolgen profitierte, hielt sich die Begeisterung in Frankreich in Grenzen. Insider berichten vielmehr von einer innerbetrieblichen Konkurrenz, die zuletzt einem „Kampf“ glich: „Wenn du bei NBTT unter Vertrag warst, hast du da einen eisigen Wind gespürt. Da bist du in der ‚bösen Ecke‘ und bei NUCLEAR BLAST abgehakt. Ich glaube, dass innerhalb der Company die Brücke kaputtgegangen ist. Und ich weiß noch immer nicht, warum. Das sind ja auch erfolgreiche Produkte, da kann man ja auch als Firma, die die vermarktet, zufrieden sein, dass man solche Produkte im Roster hat und vertreibt und Geld damit macht. Es geht ja auch ums Geld. Und ich glaube, der einen Seite geht es sogar noch mehr ums Geld.“
Der große Knall
Mit einer drögen Handelsregisterbekanntmachung vom 20.10.2021 wurde der Split beider Unternehmen endgültig besiegelt: Was bislang als NBTT firmierte, ist nun in der Neugründung einer Firma mit dem nicht ganz ironiefreien Namen ATOMIC FIRE RECORDS GmbH aufgegangen [21]. Damit ist BELIEVE künftig alleiniger Besitzer der Marke NUCLEAR BLAST – und das Team von ATOMIC FIRE „frei“ von jeder Bindung an den ehemaligen Mutterkonzern.
Lief der Vertrieb der CDs und LPs von NBTT noch über die Netzwerke von BELIEVE, wickeln ATOMIC FIRE RECORDS ihren Vertrieb nämlich über die Major-Vertriebsexperten und BELIEVE-Konkurrenten Warner Music (D/AT/CH) beziehungsweise Ward Records (Japan) und ADA (Rest der Welt) ab. Obendrein betreibt das Label ab sofort eigene Mailordershops in Deutschland/Europa, England, Australien und den USA.
Inhaber und CEO des neuen, ebenfalls in Donzdorf ansässigen Labels ist Markus Staiger, als Geschäftsführer treten seine ehemaligen NUCLEAR-BLAST-, später NBTT-Mitarbeiter Markus Wosgien und Florian Milz in Erscheinung. Bereits in der ersten Pressemitteilung vom 11.11.21 blasen die beiden zum Angriff: Mit ATOMIC FIRE RECORDS werde man „nicht nur neue Künstler aufbauen, sondern auch etablierte Acts verpflichten“. Zudem betreut ATOMIC FIRE künftig das Repertoire des von Florian Milz und Gregor Rothermel geführten Labels REAPER ENTERTAINMENT, dessen Roster mit Acts wie Tankard, Memoriam und Metal Church aufwartet. Als erste neue Signings verkünden ATOMIC FIRE bereits zum Start die jungen isländischen Power-Metal-Senkrechtstarter von Power Paladin, die skandinavische Allstar-Formation At The Movies.
Die Unterschiede zur Marktstrategie von BELIEVE sind deutlich: „Mit Liebe zum Detail möchte man unter dem Banner ATOMIC FIRE vereint das physische Produkt stärken und ebenso den Digitalbereich mit innovativen Ideen vorantreiben“, heißt es im Pressestatement weiter. Klarer könnte man das Konzept „physical first“ nicht formulieren. Dazu passt, dass ATOMIC FIRE im Frühjahr 2022 in Donzdorf einen neuen Plattenladen und Treffpunkt für Metal-Fans eröffnen wollen. Die Metal-Zukunft des Standorts scheint damit gesichert – auch wenn BELIEVE hier ihre Zelte abbrechen und NUCLEAR BLAST ganz nach Hamburg holen.
Das neue Amorphis-Album „Halo“ erscheint 2022 über ATOMIC FIRE RECORDS
Doch auch ATOMIC FIRE RECORDS planen nicht nur lokal, sondern global: Weitere Büros und Repräsentanten des Labels befinden sich in England (Leitung: Dan Tobin), Schweden (Leitung: Darren Edwards), Frankreich (Leitung: Olivier Garnier), Italien (Leitung: Barbara Francone), Spanien (Leitung: Sergi Ramos) sowie den USA (Leitung: Liz Ciavarella-Brenner).
Ob die Geschichte damit wirklich auserzählt ist, wird sich zeigen. Zumindest einen der Protagonisten hat Regisseur Markus Staiger zu diesem Staffelende mehr oder minder aus der Story herausgeschrieben: sich selbst. Von den von NBTT mitgebrachten Bands abgesehen wolle er keine weiteren Signings mehr in Angriff nehmen, sagt er. Man kann ihm nur wünschen, dass er seinen Rückzug diesmal auch durchzieht – und die Sachen macht, um die er sich bereits nach seinem Verkauf an BELIEVE DIGITAL kümmern wollte: „morgens mit Sport anfangen, alles etwas langsamer angehen und das Leben leben.“ [22]
Im Übrigen recht beschaulich: Donzdorf in Baden-Württemberg. © Klaus Eltrop / Wikimedia Commons (
https://commons.wikimedia.org/wiki/File ... oramio.jpg)
„Man sieht sich immer zweimal im Leben“ – erst recht in der Metal-Szene. Deshalb wollte keiner unserer Gesprächspartner in diesem Artikel seinen Namen lesen. Um diesen Beitrag dennoch realisieren zu können, haben wir dem Wunsch um Anonymität entsprochen. Der Redaktion sind die Namen aller Informanten bekannt.
Geschrieben am 12. November 2021 von Moritz Grütz