eine brilliante reportage, die kurz die leiden und probleme asylsuchender und migranten beschreibt. kann ich jedem nur empfehlen durchzulesen!
FLÜCHTLINGE IN ÖSTERREICH
Ins Ungewisse - Teil I
Ist es ein Wunder, dass Menschen ohne Zukunft das Weite suchen? - Schriftsteller Gerhard Roth besuchte Flüchtlingslager
Oft bin ich im venezianischen Museum Ca’ Rezzonico vor dem Fresko Il Mondo Novo von Giandomenico Tiepolo gestanden und habe im Geist versucht, in das Bild hineinzugehen. Tiepolo malte das rätselhafte Wandgemälde 1791, im Alter von 64 Jahren. Es zeigt eine Gruppe von Menschen, Männern, Frauen und Kinder, die bis auf wenige nur von hinten zu sehen sind. Sie haben daher kein Gesicht, sondern sind nur Figuren mit Hüten, Perücken, Kleidern, Wadenstrümpfen. Linker Hand ein mit Brettern vernagelter Steg und vorn das Meer, das sich bis zum Horizont hin erstreckt, am Strand eine Art Zelt, in das ein Kind durch ein Guckloch hineinspäht.
„Mondo Novo“ bezeichnete eine Jahrmarktsattraktion, einen Vorläufer der Laterna Magica, des Panoptikums, der Diaprojektion und schließlich des Fernsehens, des „Guckkastens“. Ein Mann mit Dreispitz und einem langen Stab steht auf einem Hocker und scheint auf etwas zu zeigen, vielleicht dirigiert er auch nur die Menge und bestimmt, wie lange jemand in die zeltförmige Wunderkiste schauen darf. Tiepolo zeigt uns nicht, was die Neugierigen zu sehen bekommen, aber es sind, wie wir wissen, Bilder von Entdeckungsreisen, von Eingeborenen, Kannibalen und Raubtieren, aber auch von Paradiesvögeln, Orchideen und schönen Wilden, wie es damals üblich war.
Die „Neue Welt“ ist schrecklich und schön zugleich, jeder will sie sehen. Trotz der zahlreichen Menschen, die dargestellt sind, ist das Fresko ein Bild der Abgeschiedenheit. Es ist, als warteten die herumstehenden Gesichtslosen darauf, einen Blick in die lockende Ferne und damit in die Zukunft zu werfen. Weit draußen am Horizont sind die Umrisse eines Segelschiffs zu erkennen. Möglicherweise flunkert, übertreibt, gaukelt der Schausteller mit dem Zeigestab den Umstehenden etwas vor, um Neugierige anzulocken und ein gutes Geschäft zu machen. Spricht er von der Hölle oder vom Paradies? Wartet das Segelschiff am Horizont auf Passagiere, auf Kunden, die ihr bisheriges Leben gegen die abenteuerliche Ungewissheit eintauschen wollen? Der gesichtslose Schausteller als personifiziertes Gerücht sieht nur die Menge und denkt an seine Einnahmen, es kümmert ihn nicht der Einzelne oder dessen Schicksal.
Foto: Archiv
Das Wandgemälde aus 1791 “Il Mondo Novo” von Giandomenico Tiepolo
Franz Kafka fügte dieser Ikone des Fernwehs die Irrealität des Albtraums hinzu. Seinen Namenlosen, die ohne Ausweg in ein schreckliches Dasein gezwungen sind als Hungerkünstler, als Gefolterter in der Strafkolonie, als in einen Käfer verwandelter Hilfloser, als sprechender Affe, der in einem Bericht für eine Akademie seinen Leidensweg beschreibt, all diesen Gesichtslosen gelingt keine Flucht, sie geraten vielmehr in Amerika in die heillose Fremde, schaffen es nicht, in das Schloss zu kommen, und werden zuletzt in einem Prozess zum Tode verurteilt, ohne dass sie etwas verbrochen haben.
Tiepolos stilles Bild der Neugier, der falschen Vorstellungen und großen Erwartungen und Kafkas imaginiertes Inferno sind in der Realität deutbar als Gleichnisse für Elend, Todesgefahr, Folter, Unwissenheit, Hoffnung, Aufbruch und Scheitern auf der Flucht.
Namen- und gesichtslos
Die meisten Asylanten und Emigranten, die sich nach Europa durchschlagen, haben keine Papiere und sind darum auch für die Behörden gesichtslos. Schlepper, ohne die kaum jemandem die Flucht gelingt, haben zumeist die Pässe an sich genommen, um von der Polizei nicht überführt zu werden oder die Flüchtlinge im fremden Land ausbeuten zu können. Die meisten Migranten kommen jedoch freiwillig, ohne Papiere und mit einer erfundenen Lebensgeschichte, in der Hoffnung, dann nicht sofort wieder zurückgeschickt zu werden und leichter in der Illegalität untertauchen zu können. Es sind die vielen Kafka’schen K’s., die Namen- und Gesichtslosen, mit denen die Behörden sich befassen, aber genauso häufig kommt es vor, dass Asylsuchende mehrere Namen und mehrere Lebensläufe besitzen, um von der Bürokratie nicht erkannt und verschlungen zu werden. Sie leben sich dann in ihre erfundenen Identitäten hinein, bis diese ihre eigentlichen geworden sind. Die wahre Geschichte, der wahre Name tauchen zumeist nie wieder auf. Flüchtlinge haben auf ihrer Odyssee oft alle Schrecken erlebt, die man sich nur ausdenken kann: Lebensgefahr, Betrug, Raub, Diebstahl, Trennung von geliebten Menschen, Armut, Hunger und Vergewaltigung. Unzählige finden, bevor sie noch die paradiesische Ferne erreichen, den Tod.
Dass das „Paradies“ keines ist, sondern mit Tarnung, Ver-stecken, neuem Elend und Hass verbunden ist, erfahren sie bald, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, aber kaum jemand wird sich das eingestehen. Fast alle sind aus ihrer Hölle in ein Fegefeuer geraten, denn im Kontinent des Wohlstandes will man nicht mit ihnen teilen. Man sieht in den Gestrandeten vielmehr Heuschreckenschwärme, vor denen man sich schützen muss, weil sie das Sozialsystem gefährden. Kein Staat in Europa besitzt eine grundsätzlich andere Philosophie. 8,6 Millionen Menschen waren im vergangenen Jahr „unterwegs“, der Großteil junge Männer im ersten Drittel ihres Lebens. Nur etwa fünf Prozent sind „Asylanten“ im Sinne der Genfer Konvention aus dem Jahr 1951, also Menschen, die aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, mehr als 90 Prozent hingegen, so besagen die Statistiken, „Wirtschaftsflüchtlinge“, obwohl es dort, woher sie kommen, kaum Wirtschaft gibt, stattdessen bittere und erniedrigende Armut, weshalb man auch richtigerweise von „Armutsflüchtlingen“ spricht.
Weiter: 60.000 Euro für die Reise von Nigeria nach Europa
Am schwersten haben es die Schwarzafrikaner. Der deutsche Journalist Klaus Brinkbäumer berichtet in seinem Buch Der Traum vom Leben Details aus dem Alltag in Nigeria und über die Leiden des John Ampan, der vier Jahre brauchte, um nach Europa zu gelangen, und nun überall ein Fremder ist. In einem Glossar, Afrikanisch für Anfänger, hält Ampan fest: „Korruption wird Afrika zu Grunde richten. Alle nehmen, alle zahlen, jede Gefälligkeit kostet. Korruption ist Teil unserer Kultur und unseres Alltags. Sie frisst uns auf.“ Aus der Fülle der Schicksale, die im Leser bei der Lektüre physischen Schmerz auslösen, ein Beispiel: Im Kapitel „Benin City, Nigeria, Kilometer 973“ schreibt Brinkbäumer, die Stadt sei eine des Frauenhandels und der Arbeitslosigkeit.
Es gäbe keine Industrie und keine Hoffnung für die Menschen dort. Die Familien seien so arm, dass sie ihre Töchter im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren als lebendes Fleisch an Schlepper verkauften, „darauf hoffend, dass irgendwann Geld aus dem Paradies kommt. Wenn die Schulden bei den Schleppern nicht bezahlt werden können, dann haben die Familien nicht nur ihre Töchter verloren, weil das Haus das Pfand ist … 60.000 Euro muss die Familie den Schleppern zahlen und die meisten Väter und Mütter lassen sich darauf ein, weil die wenigsten … wissen, wie schwer 60.000 Euro zu verdienen sein werden an Europas Straßenrändern“ und „auf den Rücksitzen europäischer Autos“.
Voodoo gegen Ungehorsam
Bevor die Mädchen ins gewisse Ungewisse geschickt werden, müssen sie eine Voodoo-Zeremonie hinter sich bringen, müssen ein Gebräu aus Blut, Wein und den eigenen Achsel- und Schamhaaren trinken, das sie schützen soll, aber auch zum Gehorsam gegenüber ihren neuen Herrn zwingt. „Falls das Mädchen“, schreibt Brinkbäumer, „sich in Europa verstecken und weigern sollte, die Schulden zurückzuzahlen, wird es nicht mehr lange leben“, denn dann verständigten die Gläubiger die Voodoo-Hexe, „die einen Fluch, einen Juju, über das Mittelmeer schickt“. John Ampan ist wie die Mehrheit der Schwarzafrikaner auch jetzt noch überzeugt, dass das Voodoo wirke, erst seit man sein wolle wie der weiße Mann, fehle dieser Schutz.
Der polnische Journalist Ryszard Kapucinski, ein leidenschaftlicher Afrika-Reisender und eingeweihter Wissender des Kontinents, berichtet in seinem Buch Afrikanisches Fieber von der Hörigkeit der Einwohner gegenüber dem Zauber: „Wenn ein nahe stehender Mensch stirbt, ein Haus niederbrennt, eine Kuh eingeht, ich mich vor Schmerzen winde oder von einem Malariaanfall niedergeworfen werde, sodass ich mich nicht mehr rühren kann, dann weiß ich, was passiert ist: Jemand hat einen Zauber gegen mich ausgesprochen … Dieser Zauberer muss ex definitione unter anderen Menschen leben und wirken, in einem anderen Klan oder Stamm. Unser modernes Misstrauen, unsere Ablehnung gegenüber dem anderen, dem Fremden, ist auf diese Angst unserer Stammesvorväter zurückzuführen, die im anderen, im Angehörigen eines fremden Stammes einen Träger des Übels, eine Ursache des Unglücks erblickten … Leben ist nur unter guten Menschen möglich, und schließlich lebe ich ja. Die Schuldigen sind also die anderen, die Fremden.“
Kapucinski und Brinkbäumer berichten auch vom Größenwahn und der absoluten Macht der Klan-Bosse sowie der strengen hierarchischen Ordnung innerhalb der Klans, dem Irrsinn und der Gewalt, die diese zur Folge haben. Angehörige eines Klans würden andererseits das, was wir „Unbestechlichkeit“ nennen, ergänzt Brinkbäumer, als „Egoismus oder Arroganz bezeichnen. Die ‚Big Men‘ in Afrika müssen daher viele wichtige Posten an ihre Angehörigen vergeben ... Wir nennen es ‚Klüngel‘ oder ‚Filz‘, und es fällt wirklich schwer zu begreifen, dass beispielsweise eine eher kleine Behörde wie die Marketing-Agentur für Kakao in Ghana 105.000 Mitarbeiter benötigte.“ – Das ist nur ein winziges Detail aus dem afrikanischen Elend, aus Städten, die im Müll versinken, Hunger, Mord, Totschlag, Drogen, Willkür der Mächtigen und Ausgeliefertsein der Untergebenen.
Brinkbäumer listet auf: 910 Millionen Menschen leben in Afrika, das sind 14 Prozent der Weltbevölkerung, 71 Prozent sind jünger als 25 Jahre, 410 Millionen Afrikaner sind Christen, 360 Millionen Muslime, 46 Prozent der Schwarzafrikaner leben von weniger als einem Dollar pro Tag, und von 1000 Kindern sterben in den Ländern südlich der Sahara 102 vor ihrem ersten Geburtstag, die durchschnittliche Lebenserwartung in diesen Ländern beträgt 46 Jahre. 30 Millionen Afrikaner sind an Aids erkrankt oder HIV-positiv, Polygamie ist Alltag, weibliche Geschlechtsverstümmelung verbreitet.
Kolonialisierung und Sklavenhandel
Auf dem Kontinent werden über 2000 Sprachen gesprochen. Kolonialisierung durch Europäer, Ausbeutung der Bodenschätze und Sklavenhandel, weiß Brinkbäumer weiter zu berichten, haben den Kontinent nachhaltig zerstört. 1518 fuhr das erste Sklavenschiff von Guinea in die „Neue Welt“, nach der die Gefangenen keine Sehnsucht verspürten. Die Europäer waren die Täter, doch die Häuptlinge der sich gegenseitig bekämpfenden Stämme haben ihnen dabei geholfen, die Sieger verkauften die Krieger der Verlierer an die Weißen. Ungefähr 29 Millionen Afrikaner verschleppten die Sklavenjäger, und in den folgenden vier Jahren waren es noch einmal so viele, die bei der Gefangennahme, dem Transport, durch Mord und Selbstmord starben. Rebellen, Kranke, Schwangere, Unwillige, Vergewaltigte wurden über Bord in den Atlantik geworfen.
„Kulturelle und spirituelle Vergewaltigung … haben darüber hinaus unauslöschliche Spuren in der kollektiven Psyche und dem Identitätsempfinden der Völker hinterlassen“, stellt der nigerianische Nobelpreisträger für Literatur und heutige Good-Will-Botschafter bei der Unesco, Wole Soyinka, fest. Die Kolonialstaaten haben die Bevölkerung weit gehend entmündigt, die Bodenschätze des Kontinents geplündert. Jetzt ist der Erdteil, was seine wirtschaftliche Entwicklung betrifft, ein Niemandsland, das auch noch den von der westlichen Welt zumindest mit verursachten Klimawandel zu spüren bekommt. „Es gibt etwas“, stellt Kapucinski fest, „was man mehr begehren und lieben kann als eine Frau. Das ist Wasser.“
Ist es ein Wunder, dass die Menschen, die jungen Männer, die Frauen ohne Zukunft die Weite suchen? Dass sie sich das, was sie von Europa im „Mondo Novo“, im Fernsehen, zu Gesicht bekommen oder von anderen an Gerüchten vernehmen, als irdisches Paradies vorstellen, in dem auch für sie ein Platz frei ist? Dass sie die Aussichtslosigkeit ihrer Existenz um jeden Preis einzutauschen bereit sind gegen die Hoffnung, in das Gelobte Land zu gelangen? Überall auf dem Kontinent machen Schlepperorganisationen diese Sehnsucht zu ihrem Geschäft, das zumeist ein schmutziges ist. Sie verlangen 5000 bis 10.000 Dollar und mehr, für Einheimische riesige Summen, so viel, dass ganze Familien ihre Ersparnisse vorstrecken, ihren kleinen Besitz belehnen, Garantien abgeben, die sie kaum einhalten können, im Glauben daran, dass bald monatliche Beiträge ihrer Verwandten aus Europa auch sie zu wohlhabenden Menschen machen werden, wenn es diesen nur gelingt, sich durchzuschlagen. Die meisten scheitern. Sie verhungern und verdursten in der Wüste, wenn sie von oft kriminellen Schleppern unterwegs zurückgelassen werden, werden ausgenommen oder bleiben sonst wie auf der Strecke. Über 17 Millionen Afrikaner sind auf der Flucht, und nur wenige von ihnen erreichen nach Strapazen, endlosem Warten, Entbehrungen und Demütigungen, oft erst nach Jahren die mit Stacheldraht bewehrten vier Meter hohen Grenzzäune vor der spanischen Enklave auf afrikanischem Boden, Ceuta.
Foto: Reuters/Anton Meres
Grenzpatrouille in Ceuta
Dort patrouilliert Tag und Nacht die bewaffnete spanische Guardia Civil. Trotzdem gelingt es Einzelnen, von der marokkanischen Seite aus die Hindernisse zu überwinden, andere verletzen sich schwer beim Versuch, die Zäune zu überklettern, wiederum andere stürmen gemeinsam mit ihren Leidensgefährten die Absperrung. Corinna Milborn berichtet in Gestürmte Festung Europa von diesen Verzweiflungsausbrüchen Ende September 2005.
„Fünf Tage hindurch liefen Nacht für Nacht Hunderte afrikanische Flüchtlinge mit selbst gebastelten Leitern gegen den Doppel-Grenzzaun. Dutzende schnitten sich an den scharfen Klingen des Z-Drahtes die Hände und Arme auf, brachen sich die Knochen beim Fallen … Sieben der Flüchtlinge wurden beim Überwinden des Zaunes vom marokkanischen Militär erschossen … Etwa 1200, die es nicht schafften, die spanische Seite zu erreichen, wurden mit Handschellen aneinander gekettet und in Bussen an die algerische Grenze mitten in die Sahara gebracht … ‚Ärzte ohne Grenzen‘, die dem Konvoi nachgefahren waren, spürten über 200 umherirrende Flüchtlinge auf, doch viele verdursteten.“
500.000 warten auf die Überfahrt
In Mauretanien warten nach Auskunft des dortigen Innenministeriums derzeit 500.000 Flüchtlinge darauf, auf die Kanarischen Inseln überzusetzen. Noch mehr versuchen es mit Schlauchbooten auf anderen Routen. Auf sie warten Grenzposten mit Hubschraubern, Patrouillenbooten und Nachtsichtgeräten. Die Schlepper steuern auch Malta, die Insel Lampedusa oder die Küste Italiens an, hunderte Flüchtlinge sind dabei ums Leben gekommen und „Nahrung für die Fische“ geworden, wie es sprichwörtlich heißt. Europa, schläfst du gut?
Die wenigen, denen es gelingt durchzukommen, müssen stets damit rechnen, gefasst und zurückgeschickt zu werden. Unter zumeist falschem Namen suchen sie um Asyl an, die Fingerabdrücke werden ihnen abgenommen und in einer Zentraldatenbank in Luxemburg gespeichert, damit sie, wenn sie versuchen, in anderen Ländern unterzutauchen – denn in Europa gibt es keine Grenzen mehr – gefasst und in das „Erstaufnahmeland“ abgeschoben werden können, wie es das „Dublin-Abkommen“ der EU vorsieht. Vom „Erstaufnahmeland“ erfolgt dann in der Regel die Abschiebung in ihr „Heimatland“, so die im Grunde zynische Bezeichnung für das Land, aus dem sie geflohen sind. Nur 0,1 Prozent aller Asylanträge von Schwarzafrikanern wird in Deutschland positiv erledigt, denn die meisten gelten nicht als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention. Den Illegalen bleibt nur die Möglichkeit zur Schwarzarbeit wie beispielsweise in Ceuta.
Dort leben sie als „Plastikmenschen“ auf Müllhalden, in Lagerhallen, in „notdürftigen Verschlägen aus Kunststoffplanen oder sie arbeiten an der spanischen Südküste im Plastikmeer von Almeria“, wie Milborn schreibt. „Unter den Planen wächst das Wintergemüse für Europa: Tomaten, Gurken, Paprika und Zucchini.“ Mittlerweile hat sich das Anbaugebiet auf 320 Quadratkilometer ausgedehnt, man kann es sogar vom Mond aus sehen. „Erde hat in einem solchen Glashaus aus Plastik nichts verloren, die Wurzeln der Pflanzen stecken in einer Nährlösung … Die Luft … riecht scharf nach Dünger und Pestiziden, schon nach ein paar Minuten schmerzt mein Hals, meine Augen brennen … 80.000 bis 90.000 Menschen arbeiten hier unter den Plastikplanen und in den Verpackungs-hallen. Und keiner von ihnen ist Spanier, versichert man mir überall. Für die sei die Arbeit viel zu hart“, so Milborn.
Es gibt noch eine Vielzahl anderer gesundheitsschädigender, deprimierender, zermürbender Arbeiten, es gibt nicht zuletzt als rettenden Strohhalm die Prostitution oder das Dealen mit Drogen. Nur wenige der Illegalen, der Untergetauchten, der „clandestinos“, wie sie in Spanien genannt werden, der „Heimlichen“ oder „sans-papiers“, „die ohne Ausweis“, wie sie in Frankreich heißen, haben ein Diplom, eine Ausbildung, und alle bekommen sie den versteckten oder offenen Rassismus in den Ländern, in denen sie sich aufhalten, zu spüren, den langen Arm der Polizei, und geraten sie einmal in die Papiermühlen der Bürokratie, sind sie verloren. Abgeschoben zu werden ist die größte Niederlage für einen Migranten, nach dem größten Sieg, dem Betreten von europäischem Boden. Was anderes bleibt ihm übrig, als weiter auf der Flucht zu sein? Nur durch einen Zufall sind wir nicht sie und sie nicht wir. Ohne dass wir einen Einfluss darauf hätten, könnten wir ihr Schicksal haben: als Namenlose, Gesichtslose, ohne Eigentum, ohne Dach über dem Kopf, ohne Mitleid der Bevölkerung und ohne Erlaubnis zu arbeiten, gehasst, verachtet und gemieden.
Weiter: Tschetschenien: Vernichtung von Menschen wie am Fließband
Doch das afrikanische Elend ist nur eines von vielen. Ganze Familien kommen aus Tschetschenien, auch sie über hochbezahlte Schlepper, die sie über die Ukraine und die Slowakei nach Österreich schleusen. Die ermordete russische Schriftstellerin Anna Politkovskaja beschreibt in ihrem Buch Tschetschenien – die Wahrheit über den Krieg das Martyrium des Volkes am Kaukasus. Sie vergleicht die antitschetschenische Stimmung in Russland mit dem staatlichen Antisemitismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, damals durften Juden nur mit polizeilicher Genehmigung den Wohnort wechseln und waren nur in wenigen Hochschulen zum Studium zugelassen. Deren Kinder seien dann bei der Oktoberrevolution, schreibt Politkovskaja weiter, als radikale Bolschewiki bereit gewesen zurückzuschlagen – für die Demütigungen ihrer Kindheit, „damit ihnen Erwachsenenleben und Alter nicht die gleichen Entwürdigungen bescherten wie ihren Eltern und Großeltern“.
Politkovskajas Buch ist eine atemlose Beschreibung von Gräueln, Massakern und Folter der ersten drei Jahre des zweiten Tschetschenien-Krieges, in dem ein „fast 100.000 Mann starkes föderales Truppenkontingent“ einer „600.000 Personen zählenden Bevölkerung Tschetscheniens und (nach offiziellen Angaben) 2000 Rebellen gegenüberstand“. Die Taktik der „Bombenteppiche“ auf Dörfer aus der Anfangszeit des Krieges sei abgelöst worden durch „eine Vernichtung von Menschen wie am Fließband“. Die Siedlungen seien bis auf die Grundmauern zerstört worden. Die Hungersnot sei erschreckend gewesen, monatelang eine einzige kärgliche Mahlzeit am Tag für die Bevölkerung die kaum zu ertragende Normalität, Mord an unschuldigen Zivilisten nichts Außergewöhnliches.
Vor allem das „grassierende Marodeurs-Unwesen“ unter den russischen Streitkräften habe Entsetzen und Angst verbreitet. Es gehörte zu den Alltagserscheinungen, schreibt Politkovskaja, dass aus einem willkürlich ausgewählten Haus vom Militär junge Männer entführt wurden und dann eine Lösegeldforderung von 5000 Dollar und mehr eintraf. Konnte die Familie das Geld nicht auftreiben, wurden die Verschleppten ermordet und für die Auslieferung des Leichnams die doppelte Summe verlangt.
Politkovskaja, die sich im Zuge ihrer Reportagen mehrfach in Lebensgefahr befand, nennt diese Verbrechen lakonisch „die wichtigsten Kampfmaßnahmen der Armeeangehörigen in Tschetschenien“ und bezeichnet sie als „Menschenhandel mit lebender und toter Ware“. Tausende Familien, fährt sie fort, suchten nach verschleppten Angehörigen und könnten bestenfalls deren Leichen freikaufen. Detailliert notierte die ermordete Schriftstellerin das Leid und die Entbehrung der Tschetschenen, den Sadismus, die Gnadenlosigkeit und die Brutalität der russischen Armee und den „typischen Hass“, den ihre Offiziere „auf jede Form von Öffentlichkeit“ hegen.
Blutiges Chaos
Arkadi Babtschenko schildert in Die Farbe des Krieges diese Gräuel aus der Sicht eines Angehörigen der russischen Armee. Als neunzehnjähriger Soldat während des ersten Tschetschenien-Krieges 1996 wurde Babtschenko wie viele andere ohne Grundausbildung, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, ohne Kenntnis der Lebensweise der Tschetschenen in das blutige Chaos geworfen. Die fundamentalistischen, muslimischen Widerstandskämpfer kannten keine Gnade. Binnen einer Woche war die Einheit, in der Babtschenko kämpfte, auf die Hälfte dezimiert. Verkohlte Leichen, abgerissene Glieder, Gefallene, die in Alusäcken „in die Heimat zurückgeschickt wurden“, säumten Babtschenkos Weg. Er berichtet aber auch ausführlich vom Terror der Offiziere in den Kasernen, von Folterungen, Mord, exzessiver Prügelstrafe und zynischen Erniedrigungen.
Da der Nachschub versagte, verkauften Soldaten Munition und Militärmaterial, Lkw-Fahrer Motorteile und Getriebe und Offiziere Autos und sogar neue Panzerwagen an Tschetschenen und damit indirekt an die fundamentalistischen Widerstandskämpfer. Bestraft wurden bei Aufdeckung aber nur Soldaten und untere Chargen. In diesem Inferno, das der Autor, wie Erwin Riess in einer Rezension des Buches anmerkt, „als einen Weltuntergang“, beschreibt, „versuchen Kinder und Alte bettelnd und stehlend zu überleben“, oder „sie ergeben sich apathisch den russischen Granaten und Bomben“. Und er weist auf die Zehntausenden Kranken und Traumatisierten hin, die der Krieg zur Folge hatte, „an Leib und Seele zu Schande gewordene, junge Männer“, die „in die Städte der organisierten Kriminalität oder auf das von Politik und Gesellschaft vergessene Land zurückkehrten.“ Das Virus des Krieges vergiftete dort dann zusätzlich „einen ohnehin im Zerfall befindlichen Zivilisationstyp“.
Alter Konflikt
Der Konflikt zwischen Tschetschenen und Russland ist alt. Seit dem 18. Jahrhundert schon widersetzten sich die Tschetschenen der Expansion des zaristischen Imperiums und überfielen die Gouvernements Stawropol und Krasnodar. Die Russen antworteten mit grausamen Strafexpeditionen. Leo Tolstoi hat eine lange, posthum 1912 erschienene Erzählung, Hadschi Murat, darüber verfasst. Er schildert darin das Leben und Sterben der russischen Soldaten, deren Darstellung auf eigene Jugenderinnerungen zurückgeht, und beschreibt bis ins Detail die Sitten und Bräuche der kaukasischen Völker, einschließlich der Riten des islamischen Glaubens.
Vor allem aber deckt Tolstoi die „Psychologie des Despotismus“ in der europäischen wie asiatischen Form auf und stellt ihm seine eigene Auffassung von Macht entgegen. Er lässt in seiner Erzählung Zar Nikolaus die Anweisung erteilen, dass der Befehlshaber der russischen Truppen sich streng an sein System halten solle, die Wohnsiedlungen der Tschetschenen zu zerstören, ihre Nahrungsmittel zu vernichten und sie durch fortgesetzte Überfälle zu beunruhigen. An dieser Strategie änderte sich auch in den letzten beiden Tschetschenienkriegen nichts.
Olaf Kühl, der Übersetzer von Babtschenkos Die Farbe des Krieges, skizziert in seinem Nachwort die weiteren Konflikte, die ich, kurz zusammengefasst, wiedergebe: Die russische Besatzung löste bis Ende des 19. Jahrhunderts „eine Emigrationswelle in Tschetschenien aus“. In den eroberten Städten und Dörfern wurden Kosaken und Armenier angesiedelt. Die Tschetschenen widersetzten sich bis in die 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch der Kollektivierung der Landwirtschaft nach der Russischen Oktoberrevolution.
400.000 Tschetschenen deportiert
1922 wurde Tschetschenien-Inguschetien zwar autonomes Gebiet, im Februar 1944 ließ Stalins Geheimdienstchef Berija jedoch mehr als 400.000 Tschetschenen in Viehwaggons nach Kasachstan und Mittelasien transportieren – ihnen wurde vorgeworfen, mit dem deutschen Militär kollaboriert zu haben. Ein Viertel der Deportierten starb. Die sowjetische Republik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst. Erst Nikita Chrustschow erlaubte 1995 die Rückkehr der Deportierten. Die Tschetschenen lernten in der Sowjetunion zwar Russisch, waren aber 70 Jahre nicht bereit, sich zu integrieren.
1991 wurde Dschohar Dudajew zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Er leistete seinen Amtseid auf den Koran. „Wenige Tage später proklamierte er einseitig den Austritt aus der UdSSR. Bis 1994 kam es zu einem Massenexitus von 200.000 Menschen der nicht-tschetschenischen Bevölkerung. Darauf gab der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention und der Erste Tschetschenien-Krieg begann.“
Die Tschetschenen nannten die Russen „gasski“ – „Fremde, Ausgestoßene“, die Russen die Tschetschenen „Tschechen“ und „Schwarzärsche“. Nachdem die russische Armee 1995 rund 80 Prozent des tschetschenischen Gebiets unter Kontrolle gebracht hatte, setzten Dudajews Anhänger die Kämpfe als Guerillakrieg fort. Sie schreckten dabei weder vor Geiselnahmen noch Terroranschlägen zurück. 1996 verfügte Jelzin den Rückzug der russischen Truppen. Menschenrechtsverletzungen und Grausamkeiten auf beiden Seiten kennzeichnen diese Phase des Krieges.
\"Kriminelles Eldorado\"
Das nun de facto „unabhängige“ Tschetschenien nutzte aber von 1996 bis 1999 die Chance zur Stabilisierung nicht. „Das Land verkam zum kriminellen Eldorado.“ Auch in Tschetschenien herrscht das Klan-Wesen wie in Afrika, auch in Tschetschenien bestimmt es neben der Familie das Leben des Einzelnen. Ohne den Klan gibt es kein Überleben, kein Geld für einen Freikauf von Familienmitgliedern, keine Zukunftsperspektive. Die „Klan-Tradition“ verhinderte aber auch eine starke Zentralregierung und verdiente am korrupten System.
„Tschetschenische Feldkommandeure gründeten in ihren Heimatgegenden kriminelle Fürstentümer. Das Geschäft“, schreibt Olaf Kühl, „mit den Geiseln blühte“, auch auf tschetschenischer Seite. Und weiter: „Gleichzeitig wuchs der Einfluss des Islamismus. Aus dem Ausland sickerten islamische Kämpfer ein. Ausbildungslager für Terroristen, zum Teil von saudi-arabischen Geldgebern finanziert, wurden gegründet … Im Januar 1999 verkündete der tschetschenische Präsident Maschadow, dass in Tschetschenien innerhalb von drei Jahren die Scharia, das islamische Recht, eingeführt werden solle.
FotoAP/Musa Sadulayev
Zerstörte Wohnhäuser in Grosny
Im August 1999 drangen islamische Freischärler unter Führung des tschetschenischen Rebellen Bassajew in der Nachbarrepublik Dagestan ein und proklamierten dort einen unabhängigen Gottesstaat. Der russische Ministerpräsident Putin kündigte ein hartes Vorgehen an.“ Am 2. Oktober 1999 begann der zweite Tschetschenien-Krieg mit einer Bodenoffensive der russischen Armee. Bis Jahresende waren die größten Städte Tschetscheniens erobert. Am 1. Februar 2000 wurde die Hauptstadt Grosny genommen und fünf Tage später der Sieg der russischen Truppen verkündet.
Tschetschenische Rebellen verübten jedoch weiter Terroranschläge, „besonders Bassajew tat sich durch rücksichtsloses Vorgehen gegen Geiseln und Zivilisten hervor“. Je länger der Krieg sich hinzog, desto unerbittlicher wurde er geführt. Am 2. Jänner 2003 mussten internationale Beobachter Tschetschenien verlassen. Die Klans stellten neben den Verwandten tschetschenischen Migranten hohe Geldsummen zur Verfügung, um Schlepper für die Flucht in die „Neue Welt“ bezahlen zu können, in das europäische Paradies, das in der Dunkelheit des Kriegsalltags als ein in der Ferne leuchtendes Bild lockte.
Weiter: Lokalaugenschein in Traiskirchen
Tschetschenen gelten zum Großteil als Asylsuchende, für die die Genfer Konvention zutrifft, und deshalb sind ihre Chancen auf einen positiven Bescheid auch ungleich höher als die der Migranten aus Afrika. Traiskirchen in Niederösterreich, 20 Kilometer von Wien entfernt, ist ein Symbol für das Flüchtlingswesen in Österreich. An den Südhängen des nahe gelegenen Anningers reifen hochwertige Reben. Der Weinbau hat hier schon eine lange Tradition. Auch ist der Ort mit jetzt 18.000 Einwohnern wegen seiner Semperit-Reifenfabrik ein Begriff. Schon 1900 begann die Produktion, und bis zu 4000 Einwohner waren in „ihrem Werk“ beschäftigt. Nach dem Verkauf der Fabrik in den 1980er-Jahren an den deutschen Continental-Konzern wurde ein Großteil der Produktion nach Osteuropa ausgelagert und immer mehr Mitarbeiter wurden gekündigt. Derzeit beschäftigt Continental nur noch 400 Mitarbeiter in Traiskirchen, aber die deutsche Firma konnte zwischen 1985 und 2002 aus dem Werk immerhin einen Reingewinn von rund 400 Millionen Euro erzielen.
Das sogenannte Flüchtlingslager ist frisch verputzt und besteht jetzt aus 24 Objekten auf einem Gelände von 15.000 Quadratmetern. Die Anlage wurde 1898 für eine k.u.k. Artillerie-Kadettenschule errichtet und bestand aus dem Hauptgebäude und weiteren 17 Versorgungsgebäuden. 1903 wurde es, wie die Chronik besagt, „seiner Bestimmung übergeben“. Nach Ende der Monarchie wurde der gesamte Komplex bis 1938 als „Staats- und Bundeserziehungsanstalt für Knaben“, dann in der Zeit des Nationalsozialismus als Internat der NPEA (National-Politische-Erziehungsanstalt für männliche Jugend) verwendet. Von 1945 bis 1955 diente er der Roten Armee als Kaserne und Lazarett und ist seit dem Ungarnaufstand 1956 Unterkunft für Asylanten.
Foto: Gerhard Roth
Der Gebäudekomplex besteht aus 24 Objekten. Am 30. März sind 475 Insassen aus 47 Nationen untergebracht
Zu diesem Zeitpunkt war das Lager ein Provisorium, aber Provisorien haben es in Österreich an sich, dass sie eine lange Lebensdauer haben und zu einem „fixen Provisorium“, einer Dauereinrichtung, werden. Der Gebäudekomplex bietet maximal 1500 Personen Aufenthalt, aber schon 1956 wurde er von bis zu 4000 Flüchtlingen überrannt. Damals gab es keine Probleme wegen der Überfüllung, da die internationale Hilfe „reibungslos“, wie es heißt, funktionierte. Am 1. Jänner 1960 befanden sich dann 1516 Flüchtlinge im Lager, davon 1403 Jugoslawen.
Am 24. Oktober 1988 besuchte Mutter Teresa das Flüchtlingslager, zu diesem Zeitpunkt waren 1586 Asylwerber in der ehemaligen k.u.k. Artillerie-Kadettenschule und 15.176 in ganz Österreich. 1990 setzte der Flüchtlingsstrom aus Rumänien ein. Das Lager Traiskirchen war mit 2800 Personen überfüllt, Gemeindefahrzeuge sperrten die Straßen ab, um die Ankunft weiterer 5000 Flüchtlinge aus Rumänien zu verhindern. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab es ein ständiges Auf und Ab an Flüchtlingen, die um Asyl ansuchten. Inzwischen wurde der Gebäudekomplex baufällig und war nur noch eine triste, graue Flüchtlingskaserne, die im anbrechenden dritten Jahrtausend permanent überbelegt war.
Bürgermeister wollte Renovierung verhindern
Es kam zu skandalösen Zuständen. In mehreren Räumen wurden 36, in zwei Sälen jeweils 50 Personen untergebracht, die unter indiskutablen hygienischen Bedingungen hausen mussten. Ganze Familien, Männer, Frauen, Kinder wurden unterschiedslos in die beengten Schlafräume gepfercht. Der sozialistische Bürgermeister der Gemeinde wehrte sich gegen eine Renovierung durch das Bundesimmobilienamt, da er fürchtete, dass in seinem kleinen Ort sich dann ständig um die 2000 Asylwerber aufhalten würden. 2002 waren es manchmal auch schon mehr als 2000 gewesen, obwohl das Lager inzwischen nur noch für 800 bis 1000 zugelassen war. Im Herbst und Winter 2003 und 2004 hielt der Flüchtlingsstrom – vorwiegend aus Tschetschenien und Nigeria – an, und in den Gebäuden hielten sich zumeist über 1800 Asylanten auf.
Mittlerweile waren zwar die Bundesländer von der Regierung verpflichtet worden, in Form einer Quotenregelung einen Teil der Flüchtlinge zu übernehmen, aber die wenigsten Länder erfüllten die vorgeschriebene Zahl, denn die Aufnahme wurde von der Zustimmung der jeweiligen Bürgermeister der betroffenen Gemeinden abhängig gemacht. Es kam damals vor, dass Flüchtlinge über den Zaun des Lagers Traiskirchen kletterten, um für die kalten Nächte eine Bleibe zu finden.
Teil des Hauptgebäudes gesperrt
Intern sprach man von bis zu 2400 Hilfesuchenden. Zudem wurde der Westflügel des Hauptgebäudes gesperrt, da die Gemeinde nach wie vor eine Baugenehmigung verweigerte. Inzwischen fasste sie auch einstimmig den Beschluss, dass hinkünftig kein Flüchtlingslager in ihrem Ort betrieben werden solle. Dieser Beschluss ist bis heute aufrecht, aber wirkungslos, da das Lager dem Bundesimmobilienamt des Innenministeriums untersteht und also Eigentum des Staates ist.
Ich spare mir eine Polemik gegen den Ort, denn über 50 Jahre hat Traiskirchen das schwerste Gewicht der Flüchtlingsbetreuung ohne große Widerstände getragen. Im Vergleich zur Einwohnerzahl entspräche das einem Lager von mehr als 200.000 Asylanten in Wien oder 30.000 in Graz. Die Reaktionen wären unschwer abzusehen. Die Langmut der Traiskirchner mit den übrigen Bundesländern, die sich mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland vor ihren Verpflichtungen drückten und es noch immer tun, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass sich viele Arbeiter mit böhmisch-mährischen Wurzeln zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wegen der Ziegelwerke in Vösendorf hier ansiedelten und auch 1956 zahlreiche Ungarn im Ort blieben.
Angst vor weiterem Zuzug
ber das ist nur eine vage Hypothese, denn es gilt oft auch das Gegenteil, dass Menschen, denen es unter Mühen gelungen ist, sich zu integrieren, Angst vor weiterem Zuzug haben und Flüchtlinge ablehnen. Überhaupt ist Brüderlichkeit die kostbarste und seltenste Eigenschaft in der globalisierten Welt geworden, die Kapuœciñski als ein „gewalttätiges Paradies“ bezeichnet. Auch Flüchtlinge müssen sich auf diese Tatsache einstellen: „Wir hören irgendwann auf zu lieben“, sagt John Ampan … „Wenn du deine Familie zurücklässt und jahrelang nicht siehst, wenn du erlebst, was wir erleben, dann schläfst du mit Frauen, um nicht allein zu sein. Du wirst pragmatisch, du wirst nüchtern, du kämpfst täglich um Essen und Kleidung und einem Platz zum Schlafen. Du vergisst die Liebe.“ Und weiter: „Afrikaner behandeln Europäer mit Respekt, also anders, als ihr uns behandelt … Ihr behandelt uns, als wären wir automatisch dreckig, dumm und gefährlich. Wir behandeln euch, wie ihr es nicht verdient, als Überlegene, als Meister. Afrikaner vergessen niemals, dass sie schwarz sind. Wie könnten sie das vergessen in dieser Welt?“
Den meisten Menschen ist es offenbar unmöglich, sich auch nur kurz in die Lage „Mittel- und Obdachloser“ zu versetzen, findet nicht nur Werner Kerschbaum, stellvertretender Geschäftsführer des Roten Kreuzes. Beamtenschaft und vor allem viele Politiker wollen, wie sie sagen, das Ganze im Auge behalten, das Sozialsystem, die Arbeitslosenzahlen, Steuergelder, das Bildungssystem, die innere Sicherheit … Der Bevölkerungskollaps, der Europa ohne Zuwanderung droht, liegt für sie (noch) in weiter Ferne. Drei oder fünf Jahrzehnte vorauszuplanen sind eine zu große Zeitspanne, wenn alle vier oder fünf Jahre Wahlen stattfinden. Man muss zumindest vorgeben, die Lage im Griff zu haben.
NGOs gegen Beamte
Die NGOs, die Non-Governmental-Organisations wie Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, Volkshilfe, SOS Mitmensch, SOS Asyl, Ehe ohne Grenzen, ZEBRA und andere sehen hingegen den Einzelnen, den Bedrängten, den Verzweifelten. Zwischen der Regierung und ihren Beamten und den NGOs herrscht ein Klima des Misstrauens und der Aufgebrachtheit. Eine sachliche Diskussion scheint nicht möglich. Und selbst unter den NGOs gibt es Kritik und böses Blut, für einen Außenstehenden wirkt es nahezu so, als sei ein Glaubenskrieg um die Betreuung von Flüchtlingen entbrannt.
Seit Jörg Haider und die FPÖ in der „Ausländerfrage“ die Atmosphäre vergiftet haben, haben sich die Meinungen zu Schlagwörtern verändert, sind die Standpunkte polarisiert, und ist die Debatte emotionalisiert. Von der Politik kommen – mit Ausnahme der Grünen – kaum Impulse, denn mit dem Thema Migration lässt sich keine Wahl gewinnen.
Fünfzig Seiten über Traiskirchen, das Fremdengesetz und Vorfälle im Lager druckte der Computer des STANDARD für den Zeitraum von 2002 bis 2007 aus. Eine Auswahl: Für 2003 listet die Statistik beispielsweise 19.000 Asylsuchende auf, die betreut wurden … Am 11. November 2005 wird berichtet, dass 1300 Menschen im Lager seien. Im Umfeld des Speisesaals komme es zu gewalttätigen Szenen, zu Prügeleien. Der Saal könne „nur 150 Menschen aufnehmen“. Um die achtfache Zahl Menschen zu verköstigen, müsse daher in Schichten gegessen werden … 2004 stand ein Wachmann unter dringendem Verdacht, eine Asylwerberin aus Kamerun vergewaltigt zu haben. Das Objekt 8 wurde daraufhin zum Frauenhaus umfunktioniert, zu dem Männer keinen Zutritt mehr haben, ein weiblicher Wachposten soll dafür sorgen ... Wegen Überfüllung werden im Winter Asylwerber auf die Straße gesetzt … Ein 24-jähriger Tschetschene wird im selben Jahr bei einer Massenschlägerei mit Moldawiern im Lager erschlagen. Rund 150 Menschen prügelten aufeinander ein, Pflöcke und Stangen wurden dabei als Waffen benutzt (es soll zwar keinen Alkohol im Lager geben, aber es gelingt immer wieder, ihn einzuschmuggeln).
Unerträgliche Zustände
Die Chronik berichtet außerdem von unerträglichen Zuständen: „überquellende Müllkübel auf den Gängen, beißender Gestank zu vieler Körper auf zu engem Raum in den Stockbettzimmern.“ Es wird ferner in einem Leitartikel festgehalten, dass bis 2004 bereits 120.000 Kinder und Frauen pro Jahr in die EU-Staaten verkauft wurden. Weiter heißt es: „Es gibt mittlerweile genug Studien, die nachweisen: das Nachwuchsproblem in Europa ist durch mehr Geburten allein nicht zu lösen. Eine gezielte und gut geplante Ausländerpolitik gehört gleichrangig mit der Pensionsfrage zum Zukunftspanorama jeder Regierung. Das heißt, sich auch der Flüchtlinge mit Wohlwollen anzunehmen und dort wie überall eine Art Begabtenförderung zu versuchen.“ (…)
Die deutsche Privatfirma European Homecare, EHCR, hat am 1. Juli 2003 vom Staat die Betreuung im Flüchtlingslager Traiskirchen übernommen. Das österreichische Offert eines Konsortiums aus Rotem Kreuz, Caritas, Diakonie und Volkshilfe war wesentlich teurer. EHCR erhält vom Bund 12,89 Euro (dzt. 13,80) pro Flüchtling und Tag. Die NGOs sprechen daraufhin von einer „Privatisierung der Armut“ und fragen, ob man zentrale und sicherheitspolitische Aufgaben des Staates gewinnorientierten Unternehmen übertragen dürfe. Die eigenen Organisationen verfügten hingegen über einen hohen Anteil freiwilliger Helfer, die für ihre Arbeit aus Überzeugung heraus motiviert seien … Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Konvolut, in dem seismografisch alle Vorfälle und Ereignisse, die das Lager Traiskirchen betreffen, aufgezeichnet sind.
Nachtportier veröffentlichte seine Erlebnisse
Unter dem Pseudonym Konrad Hofer veröffentlichte ein Unbekannter 2006 einen Bericht Gestrandet. Aus dem Alltag von AsylwerberInnen. „Der Autor arbeitete als Nachtportier“, heißt es auf der Rückseite des Buches, „in zwei Häusern, in denen Flüchtlinge untergebracht und betreut werden. Zusätzlich besuchte er regelmäßig Beratungszentren für AsylwerberInnen und stattete … dem berühmt-berüchtigten Flüchtlingslager in Traiskirchen mehrere und unangemeldete Besuche ab.“
Hofer weiß Trauriges zu berichten: von einem Bewohner, der schon vier Monate das ihm zustehende Taschengeld von 40 Euro nicht bekommen habe. Über die „katastrophale Lage in den Sanitätsräumen“. Dass es für das Duschen kein warmes Wasser gebe. Über die schlechte Ausbildung der Betreuer von European Homecare. Dass ein Wachmann seinen Hund auf ein Kind gehetzt habe. Dass man für das Fernsehen 30 Euro Strafe zahlen müsse. Über das schlechte Essen. Es würden keine adäquaten Deutschkurse angeboten.
„Die meisten Flüchtlinge merken nach der Ankunft in Österreich“, zieht Hofer ein Resümee, „dass sie gestrandet sind. Sie werden im Unklaren über ihre Zukunft gehalten. Sie fühlen sich auf einen schmalen ‚Küstenstreifen‘ hingeworfen und haben Angst, dass sie von einer großen Welle ins offene Meer, aus dem sie sich eben retten konnten, zurückgespült werden.“
Foto: Gerhard Roth
40 Euro Taschengeld pro Monat: Solange das Verfahren läuft, ist es Asylwerbern nicht erlaubt, einer Arbeit nachzugehen
Dem ist ohne Vorbehalt zuzustimmen, die Asylverfahren, das hat sich mittlerweile auch bis zur Regierung herumgesprochen, dauern zu oft viel zu lange. Man hat den Eindruck, dass das Warten die Antragsteller zermürben und sie zur Aufgabe bewegen soll oder dass man darauf hofft, dass die Konflikte und Probleme der Asylanten in ihren „Heimatländern“ sich zum Besseren wenden. Wie anders kann man erklären, dass mehr als 14.000 laufende Asylverfahren bereits länger als drei Jahre dauern, 375 sogar schon länger als zehn Jahre.
In der ersten Instanz würde der Großteil der Verfahren, heißt es, mit einem negativen Bescheid innerhalb von Monaten enden, doch die zweite Instanz ließe sich dann Zeit. Die zuständige Behörde bestreitet dies, bemängelt zu viele fehlerhafte Verfahren in der ersten Instanz und weist auf Personalknappheit und eine zu große Anzahl von zu erledigenden Akten in der Vergangenheit hin. Inzwischen fordern SOS Mitmensch und andere NGOs den Abbau von bürokratischen Hürden beim Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, ein Bleiberecht nach drei Jahren Aufenthalt im Land, die Entkriminalisierung von Flüchtlingen und die Korrektur von inakzeptablen Härtefällen.
Überwachungskameras am Zaun
Als ich am 30. März des Jahres in Traiskirchen eintreffe, befinden sich nur 475 Insassen aus 47 Nationen im Lager. Sie kommen unter anderem aus dem Kosovo, Serbien, Pakistan, Palästina, China, der Mongolei oder Nigeria. Die meisten melden sich selbst im Lager an. Der Gebäudekomplex und das parkförmige Areal sind von einem Zaun mit 48 Überwachungskameras umgeben, nicht weil jemand flüchten könnte – das Lager ist 24 Stunden geöffnet –, sondern damit weder Mensch noch Ware unkontrolliert hineingelangen. Die Polizeistation von Traiskirchen ist in den Gebäudekomplex am Rand integriert, 40 Beamte arbeiten dort im Schichtbetrieb. Man führt regelmäßig, etwa alle drei Wochen, Razzien durch, „um Diebsgut oder Drogen und Waffen zu finden“.
Aber die Statistik des Rechnungshofes über die Bezirkshauptmannschaft Baden besagt, dass es keine höhere Kriminalitätsrate gibt als im übrigen Österreich. Das führt die Polizei auf ihre Präsenz im Lager zurück, aber auch auf die private Sicherheitswache Siwach, die das Areal routinemäßig mit Schäferhunden kontrolliert. Die Menschen hier, sagt Wilhelm Brunner von European Homecare, seien durchwegs in einer Ausnahmesituation, da könne es blitzartig zu einem Ausbruch von Gewalt, zu Raufereien oder Handgemengen kommen.
Es ließe sich nicht abstreiten, dass mit den Flüchtlingen auch, wie es heißt, „kriminelle Elemente“ ins Lager kämen. Zwei- bis dreimal in der Woche müsse die Polizei deswegen eingreifen, aber das hänge eng mit der Belegung zusammen. Verletzte würden bei Schlägereien in das Krankenhaus Baden überstellt. Diebstähle würden etwa einmal in der Woche zur Anzeige gebracht.
Chalupka: Viele grundlose Verhaftungen
Eine Statistik der Fremdenpolizei zeigt ein jähes Ansteigen von „Tatverdächtigen Fremden“ speziell bei Nigerianern und Georgiern in den Jahren 2000 bis 2004 und hierauf einen Rückgang. Dieser wird auf eine so genannte „Schlepperamtshandlung“, die den Zustrom verringert habe, zurückgeführt. Der Direktor der Diakonie, Michael Chalupka, widerspricht: Die Statistik gebe nur Auskunft über die Anzahl der Verhaftungen, von denen sich die meisten als grundlos erwiesen.
Die Polizei nehme, wenn sie beispielsweise nach einem Drogendealer fahnde, zunächst alle Nigerianer, die gemeinsam in einem Raum nächtigten, fünf, sechs oder zehn fest, bis sie den Täter gefunden habe, was aber die Verurteilungen vor Gericht betreffe, gebe es kein Ansteigen der Kriminalität. Und der Rückgang an Verhaftungen sei auf die geringere Zahl an Migranten und Flüchtlingen zurückzuführen, die durch das strenge Fremdengesetz seit 2004 bedingt sei.
Kriminalisierung
Überhaupt sei die Kriminalisierung der Migranten und Asylanten eines der Hauptprobleme, und tatsächlich ist darauf ein guter Teil des Misstrauens der Bevölkerung zurückzuführen. Das beiderseitige Beharren auf Thesen, Theorien und fixen Standpunkten bewirke geradezu das Blühen von Vorurteilen. Immer wieder entsteht der wohl richtige Eindruck, dass die NGOs sich als Anwälte der Flüchtlinge, als Verteidiger der Menschenrechte begreifen, die Regierungsbeamten aber als selbst ernannte Staats-Anwälte, als Ankläger. Polizei und Justiz und die Beamtenschaft sehen naturgemäß nur das, was schief läuft, ihre Sicht ist sozusagen auf den Fehler fixiert, auf den Mangel, auf die Probleme.
Vierzig Euro im Monat erhält ein Asylant, wie gesagt, vom Staat als Taschengeld, aber es ist ihm nicht erlaubt, einer Arbeit nachzugehen, solange sein Verfahren läuft. Doch Arbeit ist gerade das, was Migranten und Flüchtlinge am dringendsten brauchen. Für Küchendienste oder Reinigungsarbeiten in der Anlage bezahlt European Homecare drei Euro pro Stunde, aber es gibt viel zu wenige Möglichkeiten, im Lager Geld zu verdienen, deshalb sehen sich die meisten anderswo um. Alle wollen arbeiten.
Ein Viertel bis ein Drittel der Lagerbewohner ist ständig „unterwegs“. Viele fahren mit der Badener Bahn nach Wien, wo sie auf verschiedenen Plätzen hoffen, Schwarzarbeit zu bekommen. Ein Teil versucht es in Traiskirchen selbst, gleich hinter dem Lager, in der Pfaffstättener Straße. Von sieben Uhr bis neun Uhr an jedem Morgen trifft man dort Gruppen von arbeitssuchenden Lagerbewohnern, die für drei Euro in der Stunde „Häuselbauern“ dienen oder als Erntehelfer und Landarbeiter zur Verfügung stehen.
Foto: Gerhard Roth
Für Küchendienste bezahlt European Homecare drei Euro pro Stunde
Schwarze haben weniger Chancen, weil sie schon von Weitem als Flüchtlinge erkennbar sind. Die Polizei sieht weg, denn der „Arbeitsstrich“ kommt beiden Seiten zugute, den Traiskirchnern und den Asylanten, doch ist die Doppelmoral unübersehbar. Diese Doppelmoral durchzieht wie ein roter Faden die Einstellung der Bevölkerung zu den „Ausländern“ – am Bau, bei Wohnungsrenovierungen oder „privat“, bei Putzfrauen ist der Schwarzarbeiter natürlich willkommen.
Das Fahren nach Wien mit der Badener Bahn und wieder zurück ins Lager kostet neun Euro und ist für viele Asylanten daher unerschwinglich. Allein drei Stunden Schwarzarbeit, die sie vielleicht finden, müssten sie dafür aufwenden, und das Taschengeld andererseits würde gerade für eine Fahrt pro Woche reichen, wenn sie auf sonst alles verzichten. Das Schwarzfahren ist daher „Notwehr“, Ausdruck eines unhaltbaren Zustandes, wenn man bedenkt, dass die Asylanten sich manchmal monatelang in Traiskirchen aufhalten.
Harte Strafen für Schwarzfahrer
Gegen schwarzfahrende Asylwerber wird hingegen rigoros vorgegangen. Sie müssen die Plastikkarte, die ihnen im Lager ausgestellt wird und ihre Identität festschreibt, vorweisen, das Vergehen wird von der Polizei registriert und beim Asylverfahren sozusagen als schwarzer Punkt bewertet. Fast jeder Lagerinsasse besitzt auch hier ein Mobiltelefon, ein Handy.
Ohne Handy könnte man sich in den Maulwurfsgängen der Illegalität nicht zurechtfinden. Es gebe keine Tipps für einen Arbeitsplatz, keine Verbindung zu Angehörigen (im Lager), keine Warnung vor der Polizei, keine Hinweise auf Kontrollen, aber auch weniger Gerüchte. Gerüchte haben in einem Lager einen Beschleunigungsfaktor wie kaum irgendwo sonst.
Führung durch das Lager
Auf meinem Gang durch den mittlerweile zum großen Teil renovierten Gebäudekomplex werde ich von Franz Schabhüttl und Wilhelm Brunner von European Homecare begleitet. Herr Schabhüttl, früher Polizist, jetzt Lagerleiter, der dem Innenministerium untersteht, kann trotz ausgesuchter Höflichkeit sein Misstrauen nur schwer verbergen. Herr Brunner wirkt hingegen etwas verunsichert, ist aber an einem Gespräch interessiert.
Mein Besuch ist angemeldet und deshalb, wie jeder angemeldete Besuch, die Besichtigung eines Potemkinschen Dorfes. Oder ist das nur Misstrauen meinerseits? Ich suche jedenfalls die ganze Zeit über nach Mängeln, nach Fehlern, die vor mir vertuscht werden und mir verborgen bleiben sollen. Sicher, das Lager ist im Vergleich zu den mir bekannten katastrophalen Zuständen stark unterbelegt, aber selbst dieser Umstand macht argwöhnisch.
Mein eigenes Misstrauen und das Misstrauen, das mir entgegengebracht wird, begleiten mich auf der gesamten Recherche und bleiben mir als Leitmotiv in Erinnerung. Sowohl meine Begleiter als auch ich überlegen uns jedes Wort, bevor wir es aussprechen. So bekommen wir einen Hauch von jenem Misstrauen zu spüren, das mit dem gesamten Migranten- und Asylantenwesen verbunden ist, und ich misstraue nicht nur den anderen, sondern auch mir selbst.
Foto: Gerhard Roth
Brunner von European Homecare und Lagerleiter Schabbhüttl: Katz- und Maus-Spiel zwischen Polizei und Schubhäftlingen
Es ist ein sonniger, kühler Frühlingsmorgen, alles macht einen friedlichen Eindruck. Im Areal und vor den Telefonzellen am Eingang einige wenige Fußgänger. Der Kinderspielplatz ist wegen eines tödlichen Unfalls, der sich auf einer ähnlichen Kletteranlage in Wiener Neustadt ereignete, gesperrt, der in einer Baracke untergebrachte Kindergarten verwaist. Nur ein schwarzafrikanisches Mädchen mit Zöpfen zeichnet einsam und ernst an einem Tisch und blickt lächelnd auf. Auch der Unterrichtsraum für die Deutschstunde präsentiert sich mit umgedrehten Stühlen auf den Bänken. Aus den Kreidespuren, die das Wasser und ein Reinigungstuch auf dem schwarzen Brett hinterlassen haben, lese ich: „1975/ Congo, 1938? Friede? Krieg – war, peace, guerre, paix.“ Und: „Ich gehe zum Supermarkt … I go to the supermarket.“
Draußen auf der Wiese spielen drei oder vier Buben, die Kindergärtnerin beobachtet sie beim Fahren auf bunten Plastikdreirädern. Wir kommen an diesem Tag zu allem zu spät. Herr Brunner betont, dass unsere Vorbesprechung zu lange gedauert habe, und außerdem sei heute ein besonders schönes Wetter, da würden viele nach Wien fahren … Auf dem Sportplatz spielen zehn Jugendliche ohne besonderen Eifer Basketball. Wir besichtigen das Objekt 8, das Frauenhaus, einen „modernen“ Bau.
Es ist noch immer nach den Vergewaltigungen und Vergewaltigungsversuchen für allein stehende Frauen oder Frauen mit Kindern reserviert. Eine füllige Wachebeamtin in Uniform und Krawatte sitzt unter der weißen Wanduhr mit schwarzen Ziffern, die auf 12.30 Uhr zeigt. Sie hat es sich auf ihrem Stuhl mit einer zusammengefalteten Decke gemütlich gemacht. Neben ihr ein Abfallkübel, eine Reisetasche und ein Handarbeitskoffer mit Strickzeug. SOS Menschenrechte finanziert ihren Job.
Vor dem Lager habe es bis 2003 einen Prostituiertenstrich gegeben, sagt Herr Schabhüttl. Aber noch immer gingen 80 Prozent der im Objekt 8 untergebrachten Frauen außerhalb des Lagers der Prostitution nach, oft um sechs Euro pro Freier. Sie würden am Nachmittag oder Abend nach Wien fahren. Die meisten müssten es tun, um den Schleppern das Geld für den Transfer zu bezahlen, viele seien diesen ausgeliefert.
Ich bezweifle diese Aussage, aber Herr Brunner bestätigt sie ausdrücklich. Manche Frauen halten sich drei Wochen im Objekt 8 auf, manche monatelang. Ich besichtige zwei Zimmer. Alles ist sauber, Stockbetten, ein Tisch, gelbe Stühle, ein Kasten, orange Vorhänge und weiße Stores, Kunststoffboden. Ein Apfel liegt auf einem Tisch, ein gemustertes Geschirrtuch.
Im Frauenhaus
Die Frauen sind ängstlich und misstrauisch, offenbar fragen sie sich, weshalb der Lagerleiter und ein Mitarbeiter von European Homecare sie aufsuchen. Unter den Betten Schuhe, Plastikkübel, eine Kaffeemaschine, auf einem Stuhl eine rote Stoffpuppe. Im zweiten Zimmer liest eine junge Frau in Jeans und mit Brille ein Buch, sie macht einen melancholischen Eindruck, ihr gegenüber trinkt eine lebhafte junge Frau Kaffee. Ein Gespräch ist schwer möglich, denn was für einen Sinn hätte es, sie in Gegenwart meiner Begleiter nach ihrem Befinden zu befragen? Ich bin weiter misstrauisch, kann aber andererseits nicht übersehen, dass das Lager, vielleicht weil die Belegung so gering ist, nicht meinen Vorstellungen von Elend und Verzweiflung entspricht.
Die „Aufnahmestraße“ für Flüchtlinge ist menschenleer. Die Verwunderung von Herrn Schabhüttl und Herrn Brunner darüber bestärkt meinen Verdacht, an der Nase herumgeführt zu werden. Bernhard Macalka vom Innenministerium, der die Vorgänge bei der Erstaufnahme verantwortet, ein junger, freundlicher Beamter, ist ebenso kooperativ und auskunftsbereit wie meine Begleiter.
\"Informatoren\" geben Auskunft
In den verwaisten Gängen, die den Anschein erwecken, dass das Flüchtlingsproblem bereits gelöst sei, entdecke ich endlich einen einsamen Schwarzafrikaner mit Baseballkappe, der mich in einer Mischung aus Angst und Misstrauen mustert, bevor er sich zur Seite dreht und in eine Ecke starrt. Vermutlich ist es mein Fotoapparat, der ihn irritiert. In einem Regal liegen die Aufnahmeformulare in verschiedensten Sprachen und Schriften auf, ich zähle rund dreißig Sorten. An zwei großen „Informatoren“, Automaten mit Bildschirm, Telefonhörern und einem Flaggenalphabet erfährt der Flüchtling, welche Auskünfte benötigt werden und welche Angaben er machen muss.
Foto: Gerhard Roth
Erstaufnahme in Traiskirchen, Niederösterreich, 20 Kilometer von Wien entfernt
Hat er sich mit Papier und Elektronik herumgeschlagen, beginnt die Verfertigung von amtlich beglaubigter Identität: Es besteht zunächst die Möglichkeit einer Rechtsberatung. Der Raum ist zurzeit geschlossen, die Beamtin macht Mittagspause. Auch die Büros der Polizei sind bis auf die Beamten leer. 44 Mitarbeiter sind dort normalerweise im Schichtbetrieb tätig. Landkarten von Österreich und Wien und Umgebung an den Wänden, verschiedene Kalenderblätter, eines davon zeigt zwei „sprechende“ Delfine am Rand eines Pools.
Computer, eine Stereoanlage, ein Maikäferlampion hängt von der Decke. Man zeigt mir die „Wunderwaffe“, das elektronische Daktyloskop, mit dem die Fingerabdrücke abgenommen werden und die Identität leichter nachgewiesen werden kann. Auch fotografiert werden die Asylsucher für die Identitätskarte. Daneben gibt es noch das klassische Daktyloskop mit schwarzer Farbe, Farbroller und Formular, auf dem Arbeitsblech sind noch die Fingerabdrücke eines Menschen zu sehen. Und man zeigt mir die Maschine, in der die Ausweiskarte hergestellt wird, und erklärt mir, dass die Asylanten nun Anspruch auf die Grundsicherung (medizinische Betreuung und Taschengeld) hätten und von diesem Zeitpunkt an die Arbeit von European Homecare beginne.
Es gebe ein Depot mit neuen Kleidern, sagt Herr Brunner, und die Lagerbewohner und Neuankömmlinge könnten sich dort das Nötige kostenlos besorgen. Aber es käme immer wieder zu Reklamationen, entweder durch Stress, oder weil „manche bestimmte Vorstellungen“ hätten. Die Flüchtlinge würden sodann in ihre Quartiere gebracht, am nächsten Tag würden sie zur ärztlichen Untersuchung geführt.
Die Erste-Hilfe-Station in einem anderen Objekt gibt es in dieser Form seit 2004. Zuerst werden die Aufgenommenen von einem Lungenfacharzt röntgenisiert, um Tuberkulosefälle festzustellen, die an eine Lungenheilstätte überwiesen werden, dann wird eine Impfung gegen Masern, Röteln, Diphtherie, Kinderlähmung, Keuchhusten und Mumps vorgenommen, wohl auch, um den Ausbruch von Seuchen im Lager zu verhindern.
Traumatisierte werden an den Psychiater weitergeleitet. Die anschließende Erstuntersuchung ist nicht ganz einfach, da die Patienten die verschiedensten Sprachen sprechen. Die Ärztin, groß, schlank, jung, ist sehr sachlich. Auch hier sehe ich nur eine Frau mit Kopftuch davonhuschen, dann ist der Gang vor der Ordination leer. An der Wand hängt eine farbige Kinderzeichnung, die eine großäugige, muslimische Frau darstellt, mit einem blauen Kleid, auf dem ein gelbes Nike-Markenzeichen prangt.
Meine Fragen in Anwesenheit der beiden Begleiter werden nur knapp beantwortet. Ich erfahre inzwischen, dass bei Hungerstreiks mehrmals am Tag Blutproben aus der Fingerbeere abgenommen würden, die über den Gesundheitszustand und ein tatsächliches Fasten Auskunft geben. Selbstmordversuche würden zwar oft angekündigt, aber sehr selten ausgeführt. Gefährdete würden nach Gugging überwiesen und kämen erst wieder zurück, wenn sie psychisch stabil seien.
Natürlich ist die Ausspeisung längst zu Ende. Die gekachelte Großküche mit den wuchtigen, verchromten Kesseln ist schon gereinigt, und ich kann nur den leeren Saal besichtigen, einen hohen Raum, der zweifach durch dreiteilige Torbögen unterteilt ist. An der Rückwand ein buntes Gemälde im Plakatstil. Es zeigt Moscheenkuppeln und Minarette, eine Düne, ein Kamel, einen Elefanten, einen Schwarzafrikaner und eine Schwarzafrikanerin, schneebedeckte Berggipfel, Himmel und Schäfchenwolken.
Die Säulen und der Boden sind weiß gefliest, jeweils drei Stühle vor den Tischen mit einer Holzlatte zu einer Reihe zusammengeschraubt, um, was schon vorgefallen sei, zu verhindern: dass bei einer Rauferei mit ihnen geworfen oder aufeinander losgegangen werde. Es würde jetzt auch Kunststoffbesteck ausgegeben, weil das metallene zumeist „verschwunden“ sei.
Die Asylanten stellen sich, sagt man mir, hinter der Tür in einem Gang mit weißen Gittern an, die Identitätskarte wird von einem Automaten geprüft und dann das Essen ausgegeben. Nach heftigen Reklamationen würde kein Schweinefleisch mehr in den Speiseplan aufgenommen, das wird auch auf Anschlägen mit durchgestrichenen Schweinen sichtbar gemacht. Im Saal befänden sich zur Essensausgabe bis zu vier Polizisten, denn jede Essensschicht dürfe bei Überbelegung nicht länger als zehn bis 15 Minuten dauern, da es, wie gesagt, nur Platz für 150 Personen gebe.
Bei 1500 Flüchtlingen dauere dann die Ausspeisung zwei Stunden. Dabei komme es immer wieder zu „Zwischenfällen“. Um elf Uhr seien zuerst die Frauen und Kinder an der Reihe. Das Abendessen werde von 17.00 Uhr bis 17.30 Uhr ausgegeben, kleine Kinder bis zu sechs Jahren und Kranke dürften das Essen in den Quartieren einnehmen. Wir verkosten gemeinsam im Personalraum das Mittagessen: Knoblauchsuppe, Kabeljau, gebratenen Gemüsereis, Salat, eine Kiwi-Frucht, dazu schwarzen Tee. Vor dem Eingang haben sich zwanzig junge Männer angestellt, die auf die Ausgabe der vierzig Euro Taschengeld warten. Sie sind gut gelaunt, die Freude über den erwarteten Geldbetrag ist ihnen anzusehen. Und sofort verspüre ich wieder Argwohn.
An diesem Tag besuchen wir noch die Rückkehrberatung, in der ein Rumäne und eine Ukrainerin Zaudernden eine Überbrückungshilfe bis zu 370 Euro, den Flug und – falls kein Pass vorhanden – Rückkehrzertifikate von den Botschaften für die Heimreise anbieten. Von 10.000 Fällen haben im vergangenen Jahr allerdings nur 250 davon Gebrauch gemacht. Ich wundere mich nicht mehr, dass ich auch hier keine Hilfesuchenden antreffe. Aber mein Wunsch, einzelne Objekte zu betreten und unangemeldet Quartiere zu besichtigen, wird ohne Einwand erfüllt.
Wir klopfen an eine Zimmertür. Zwei Frauen einer Mongolenfamilie liegen im Bett und halten Mittagsrast, der Mann im weißen T-Shirt hebt das entzückende Kind auf und streckt es mir zum Fotografieren hin. Stockbetten im Raum, ein Kasten, Tisch, Stühle, Vorhänge. Und auf den Kasten und ein Stockbett sind Berge von Stofftieren hingeworfen, das Mädchen hält eine Barbie-Puppe am Schopf und lacht.
In einem anderen Objekt ein Zimmer mit acht Stockbetten für sechzehn Männer. Die meisten kommen aus Pakistan. Ein Mann schläft tief, drei spielen Karten, wobei einer von ihnen im Schneidersitz auf der Tischplatte hockt, die anderen stehen beisammen und reden. Auch sie sind freundlich und betrachten unser Erscheinen als Abwechslung. In einem weiteren Zimmer, das wie alle sauber ist, ebenso wie die Gänge, zeigt sich ein ähnliches Bild.
Foto: Gerhard Roth
“Soll die Familie abgeschonen werden, sind plötzlich die Kinder weg”
Mehrmals bedauert Herr Brunner, dass wir zu spät mit der Führung begonnen hätten, weshalb wir zu wenig vom Alltag sehen würden. Am Gang begegnet uns gleich darauf ein Nigerianer, der fünf Monate in Schubhaft war und soeben ins Lager zurückgekommen ist. Es sei wie in einem schlechten Film gewesen, sagt er auf Englisch. Und: „Verrückt.“ Das Ganze sei, erklärt mir Franz Schabhüttl, nachdem der Schwarzafrikaner in sein Zimmer gegangen ist, ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Schubhäftlingen.
Wenn beispielsweise eine Familie abgeschoben werden solle, seien plötzlich die Kinder nicht mehr da. Über das Handy würde nämlich vorher organisiert, dass jemand mit ihnen außerhalb des Lagers spazieren gehe. Wenn alles vorüber und die Polizei abgezogen sei, tauchten die Kinder plötzlich wieder auf. – Aber natürlich ist es kein Spiel, sondern bitterer Ernst, geht es doch für die Familien um alles, während die Polizei nur ihren normalen Dienst versieht. Frauen, fährt Herr Schabhüttl fort, würden zumeist in Herzattacken ausweichen, man würde sie dann von der Rettung ins Krankenhaus bringen lassen.
Im Freizeitzentrum, einer Sporthalle mit fünf Hometrainern und Fitnessgerät spielen Schwarzafrikaner auf zwei Tischtennistischen, und einige Russen und Mongolen sitzen auf den Trainingsfahrrädern, auch ein älterer Mann mit Kappe und getönter Brille. Die Menschen hier sind fröhlich und neugierig. Zuletzt besichtigen wir noch das Beratungszentrum und das Psychosoziale Zentrum von SOS Menschenrechte. Das Beratungszentrum mit Fernsehgerät und zwei auf den Tisch geklebten Schachbrettern dient den Lagerinsassen in allen Fragen, die mit dem Asyl zu tun haben.
An den Wänden Fotografien von Fußballmannschaften aus dem Lager, die European Homecare zusammengestellt hat, und eine große, farbige Österreich-Landkarte hinter Glas, an der sich gerade zwei junge, schwarzafrikanische Männer orientieren. Ein Russe, ein Mann aus dem Senegal und eine Österreicherin tummeln sich hinter dem verglasten Schalter. „Die Beratungsstelle ist 24 Stunden geöffnet“, betont Herr Brunner. Im Laufe der Besichtigung komme ich zur Überzeugung, dass ihm seine Arbeit am Herzen liegt. Er steht zwischen NGOs und Innenministerium und nimmt damit den sprichwörtlichen Platz zwischen den Stühlen ein.
Foto: Gerhard Roth
In der Sporthalle
Erst im Psychosozialen Zentrum von SOS Menschenrechte ist normaler Betrieb. Die ganz Armen aus Tschetschenien, Georgien, Moldawien, Afghanistan oder Nigeria, erklärt eine Betreuerin, schafften es nie, hierherzukommen. In der Regel gehörten die Asylanten der Mittelschicht an. Die Betreuerin ist vorsichtig und zurückhaltend, auch sie misstraut mir und meiner Begleitung.
Es gebe Dolmetscher für alle Sprachen im Psychosozialen Zentrum, sagt sie, Schwerpunkt seien aber die Tschetschenen, die durch Folter, Vergewaltigung und Kriegshandlungen traumatisiert seien und an Schlaf- und Angststörungen litten. Die Hilfe laufe „anonymisiert“ ab. Man könne sehr viel im Vorfeld abfragen. Ein Imam der Tschetschenen käme einmal in der Woche zur Beratung. Wir werfen einen Blick auf die angeschlossene kleine Bibliothek, und dann, auf dem Rückweg, befrage ich Herrn Brunner zu den Vorwürfen, die Konrad Hofer in seinem Buch Gestrandet der European Homecare macht.
Herr Brunner ist empört und legt mir aufgebracht dar, dass kein Bewohner um sein Taschengeld geprellt werde. Dass das warme Wasser nur einmal ausgefallen sei, die Reparatur aber vier Tage gedauert habe. Die Betreuer von European Homecare seien in der Regel gut ausgebildet und würden weitergeschult. Dass ein Wachmann seinen Hund auf ein Kind gehetzt habe, sei eine üble Verleumdung. Für das Fernsehen im Zimmer mit privatem Fernsehapparat sei nur eine Kaution zu entrichten, die zurückerstattet werde, wenn das Gerät bei der Abreise mitgenommen werde.
Deutschkurse fänden laufend statt und müssten nur wahrgenommen werden, und es sei unmöglich, mit dem Essen den Geschmack von Menschen aus 54 Nationen zu treffen. Er überreicht mir auf Verlangen den Speiseplan der vergangen Woche. Die menschenleere Anlage und die leeren Korridore lassen mir jedoch keine Ruhe, und ich vereinbare mit dem Lagerleiter, Herrn Schabhüttl, einen weiteren Besuchstermin, bei dem ich einen normalen Betrieb sehen will.(DER STAND
Reise ins Ungewisse
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Ins Ungewisse - Teil II
Der Schriftsteller Gerhard Roth hat mehrmals das Flüchtlingslager Traiskirchen besucht - Was er dort erlebte, hat er fotografiert und aufgeschrieben
Das zweite Mal kann ich mich schon orientieren und weiß, worauf ich achten muss. Bevor ich aber aufbreche, höre ich mich um und erfahre \"unter dem Siegel der Verschwiegenheit\" von einem ehemaligen Mitarbeiter im Lager, dass ein Amtsdirektor im Auftrag des Traiskirchner Lagerleiters Franz Schabhüttl \"Brandkontrollen\" durchführe. Er besichtige jeden Tag zu verschiedenen Zeiten unter diesem Vorwand jedes Zimmer, jeden Raum. Er gelte als \"Spion\" und erfülle seinen Auftrag lückenlos. Schabhüttl sei ja Polizist gewesen, ein \"Polizeifuchs\", und sein Zugang zu seiner Arbeit der eines Polizeibeamten geblieben. Er verfolge deshalb die Sozialarbeit mit Argwohn, mache sie lächerlich und verunglimpfe sie.
Im Grunde sei er der Meinung, dass man \"das alles\" nicht brauche. Engagierte Sozialarbeiter stellten für ihn eine Gefahr dar, da sie sich immer auf die Seite der Flüchtlinge schlügen, deren Probleme vertreten und ihm nur Schwierigkeiten bereiten würden. Bei Streitigkeiten werfe er automatisch alle beteiligten Flüchtlinge aus dem Lager, diese müssten dann von Sozialarbeitern anderswo wieder untergebracht werden. Es sei sinnlos, sich bei Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen, man müsse schon einen Umweg finden. Zwar toleriere er Soziales und verkaufe es auch stolz, in Wahrheit sei er aber nach wie vor skeptisch, was dessen Notwendigkeit betreffe.
Foto: Gerhard Roth
Wilhelm Brunner wird hingegen \"Bemühen\" attestiert. An European Homecare aber lässt der Augenzeuge kein gutes Haar und bezeichnet die Organisation abwertend als \"gewinnorientiert\" und \"verlängerten Arm der Regierung\". Sie sei auch den NGOs ein Dorn im Auge, diese würden ihr fehlendes Verständnis für die Betreuungsarbeit vorwerfen. Herr Brunner selbst ist von diesem Urteil, wie ich später feststelle, verletzt und versucht, über die anderen trotzdem kein schlechtes Wort zu sagen. Heftige Kritik wird von mehreren Seiten an der Bezirkshauptmannschaft Baden geübt, vor allem was die rigorose Ablehnung der Asylanträge betreffe.
Ein Beamter, dessen Bescheide in der Regel nicht rechtskonform seien, steht im Mittelpunkt, er wird als \"präpotent und frech\" beschrieben und gebe rasch verbale Drohungen von sich. Er habe es auch zu verantworten, dass es häufig zu Fällen von Schubhaft komme, die nachträglich wieder aufgehoben werden müsse, da sie von ihm zu Unrecht verhängt worden sei. Die betroffenen Asylanten würden dadurch jedoch traumatisiert. Der Geist der Fremdenpolizei in der Bezirkshauptmannschaft Baden sei von \"Gehässigkeit erfüllt\", sagt der Informant wörtlich. Er macht mich auch darauf aufmerksam, dass man das \"wahre Gesicht des Lagers\" erst erkennen könne, wenn mehr als 1000 Migranten und Asylanten sich in ihm aufhielten. Dann sei die Luft in den Räumen \"stickig\". Speziell bei der Essensausgabe herrsche \"knisternde Spannung\", bestätigt er.
Foto: Gerhard Roth
Als ich mich am 13. April dem Eingang des Lagers nähere, fallen mir in Pkws schlafende Asylanten am Straßenrand auf. Hinter dem Portiergebäude ein Hundezwinger für drei Schäferhunde. Einer von ihnen säuft gerade an der Leine eines Beamten der Siwach aus einem Napf. Franz Schabhüttl und Wilhelm Brunner erzählen mir gleich darauf, dass Fälle von Masern aufgetreten seien, und geben mir die Zahl der heutigen Belegung mit \"nur 486\" bekannt. Aber die Anlage wirkt viel lebendiger als das erste Mal. Vielleicht, weil ich früher gekommen bin. In der Kindergartenbaracke herrscht reger Betrieb, ein Mädchen mit Weihnachtsmann-Mütze träumt neben seiner Mutter vor sich hin, der Fernsehapparat läuft, und Chinesen- und Mongolenkinder strecken sich auf grünen Fauteuils aus, sehen fern oder setzen Puzzles zusammen. Im angrenzenden Klassenzimmer findet vor acht Männern und einer Frau Sprachunterricht statt, und auf dem Basketballplatz ist ein Spiel im Gange.
Wieder befällt mich Misstrauen, dass alles nur inszeniert ist und diesmal \"Normalbetrieb\" vorgeführt wird. Auch die Aufnahmestraße ist bevölkert, ich zähle siebzehn Personen, Männer, Frauen und drei Kinder. Ein Schwarzafrikaner schläft auf einer Bank. Das daktyloskopische Gerät ist in Betrieb, ein Polizeibeamter mit Gummihandschuhen drückt routiniert den Finger eines kurzhaarigen Mannes in Jeans, Turnschuhen und einem Polohemd auf den Scanner. Die vergrößerte Fingerbeere taucht auf dem Bildschirm auf, die feine Struktur von Parallelen und filigranen Turbulenzen ineinander übergehender Linien.
Weiter: Im Speisesaal: Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen
Im Speisesaal kommen wir diesmal zum Essen rechtzeitig. Allmählich füllt sich der große Raum. Es wird wieder das Freitagsessen serviert: Fisch, Kartoffeln, als Vorspeise Leberknödelsuppe, als Nachspeise eine Orange oder ein Apfel. Dazu kann Brot nach Bedarf aus einem Kunststoffbehälter entnommen werden. Mir fällt auf, wie viele Jugendliche und Kinder an den Tischen sitzen. Auch eine Frau mit seltsamem Gehabe, die Haare im Gesicht, einen braunen Topfhut auf dem Kopf, ist darunter, die offensichtlich psychisch krank ist. Sie wird nicht weiter beachtet, jeder konzentriert sich auf sein Essen.
Foto: Gerhard Roth
Während ich die Suppe zu mir nehme, treten zwei Männer, Palästinenser, wie sich herausstellt, an den Tisch und beschweren sich bei Herrn Brunner, dass nur heute das Essen gut sei, sonst gebe es so etwas nie. Einer der beiden stellt sich als Journalist vor und erklärt, dass er schon vierzehn Tage im Lager sei, aber noch nie eine Orange zu Gesicht bekommen habe. Herr Brunner und ein Schwarzafrikaner, der für den reibungslosen Ablauf sorgen soll, verwickeln die beiden in eine Debatte, aber nun kritisieren auch zwei weitere Asylanten den Speiseplan. Ein Schwarzafrikaner, der am selben Tisch sitzt wie ich, lässt inzwischen alles bis auf den Salat stehen und kostet nur vom Fisch, der ihm nicht schmeckt - anstelle der Kartoffeln sei er Yam-Wurzeln gewöhnt, sagt er. Ich habe die Mahlzeit aber gut gefunden, und die meisten im Speisesaal machen - zumindest heute - einen zufriedenen Eindruck. Ich bleibe eine Dreiviertelstunde. Mir ist klar, dass ich auch bei weiteren Besuchen kein umfassendes Urteil über den Betrieb im Lager und den normalen Alltag würde abgeben können. Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen. Das geschehe wohl, sagt Herr Brunner, um Österreich nicht als Asylland attraktiv zu machen.
Weiter:Gespräche mit der Psychologin
Selbst die Psychologin kann ich an diesem Tag sprechen, sie ist allerdings durch die Anwesenheit meiner Begleiter auffallend vorsichtig. Ich frage sie nach den Traumatisierten. Die meisten kämen aus der Russischen Föderation, Afrikaner suchten sie weniger auf, antwortet sie. Wenn die Flüchtlinge im Lager wieder mehr Zeit hätten und zu sich kämen, kehrten auch die schrecklichen Erinnerungen verstärkt ins Bewusstsein zurück. Traumatisierte könnten untereinander nicht über ihre Probleme sprechen. Zudem hingen sie in der Luft: Der Ausgang ihres Verfahrens sei ungewiss, sie dürften nicht arbeiten, hätten wenig Geld und spürten, dass sie nicht willkommen seien, so wie sie es erwartet hätten. Arbeit sei für sie das Allerwichtigste. Keiner käme - darin sind sich auch Schabhüttl und Brunner einig -, um, wie sie sagen, \"in der sozialen Hängematte zu liegen\". Vom Augenblick an, an dem sie arbeiten dürften, würden die Flüchtlinge auch nicht mehr die Beratungsstelle aufsuchen, ergänzt die Psychologin.
Kaum hat sie den Satz beendet, wird die Tür aufgerissen, und ein Mann tritt ohne anzuklopfen ein, geht aber sofort, als er Herrn Schabhüttl registriert, wieder hinaus. Es ist tatsächlich, wird mir auf meine Frage bestätigt, der so genannte \"Brandschutzbeauftragte\" gewesen, von dem die Rede war. Ich benutze die Gelegenheit, um mich nach dem Beamten bei der Fremdenpolizei in Baden zu erkundigen, der angeblich die Flüchtlinge mit seinen Asylverfahren schikanieren soll. Herr Schabhüttl ist jedoch voll des Lobes für ihn und gerät in einem Atemzug über ihn und den \"Brandschutzbeauftragten\" ins Schwärmen.
Foto: Gerhard Roth
Auf meine Frage nach den größten Problemen im Lager antwortet die Psychologin später: Gewalt jeglicher Art, Streit zwischen Ehepaaren oder Verzweiflung über die Trennung, Unruhe, Schlaflosigkeit, Depressionen, Mobbing, auch Frauen gingen aufeinander los. Im Objekt 8, erfahre ich weiter, im Frauenhaus, wohne jetzt die Asylantin mit dem braunen Topfhut, die ich im Speisesaal gesehen habe, in einem Einzelzimmer, sie bekäme einen Sachwalter. Es gebe Psychotiker, die durch die ganze Welt \"tingelten\", erklärt die Psychologin.
Vor dem Lagerausgang weist mich Franz Schabhüttl auf das Biotop mit zwei Rotwangenschildkröten hin, die träge durch das braune Wasser paddeln, und die schönen Goldfische. Auch zwei oder drei Aale gebe es. Vor allem aber brütete eine Wildente hier, European Homecare müsse für den Entenlaufsteg sorgen, berichtet er stolz.
Ich sage zum Abschied, dass ich in zwei Tagen zur Schubhaft in die \"Liesl\" an der Rossauer Lände gehen würde. Der Kanton Bern in der Schweiz, antwortet Herr Brunner daraufhin, würde abgelehnte Asylwerber in einen Bergstollen am Jaunpass \"verfrachten\", damit die Asylanten das Weite suchten. Zu Hause finde ich im Internet unter www.tagesschau.de den Artikel vom 9. Juni 2004, daraus geht hervor, dass es sich um einen kalten, fensterlosen Betonunterstand in 1500 Meter Höhe handelt, in dem 100 Menschen untergebracht werden können. Diese würden mit der Absicht in den Bunker geschickt, erklärt die Polizei- und Militärdirektorin Dora Andres, \"dass sie wissen, wir sind wirklich nicht mehr willkommen, wir müssen den Entscheid, dass wir illegal sind, akzeptieren und die Schweiz verlassen\". In Australien geht man noch brutaler vor, dort sperrt man illegale Immigranten in umzäunte Lager auf einer Insel weg, lese ich später in Umgang mit Flüchtlingen von Wolfgang Benz.
Weiter: Misstrauen und Klischeeantworten
Bevor ich das Rathaus am Hauptplatz von Traiskirchen betrete, habe ich die barocke Pestsäule mit einer Figur des Heiligen Sebastian fotografiert, der von vier vergoldeten Pfeilen in den Beinen und der Brust getroffen ist. Der sozialdemokratische Bürgermeister Fritz Knozter hat, nachdem ich den ersten Termin nicht einhalten konnte, keinen weiteren für mich frei. Irgendwann, sagt sein Sekretär Andreas Babler, der ihn vertritt, habe sein Chef einem Journalisten gegenüber eine unbedachte Äußerung über Lagerbewohner gemacht, und das sei dann in der Presse \"breitgetreten\" worden. Er will aber darauf nicht eingehen. Und als Herr Babler mir den Gemeinderatsbeschluss erläutert: sofortige Reduzierung der Migranten und Asylanten im Lager auf 300 und mittelfristig die Schließung des Lagers - \"Wir wollen das Lager weghaben, aber wir haben keine Kompetenz!\" -, fallen mir wieder die Pestsäule und der Heilige Sebastian vor dem Rathaus ein. Der Flüchtlingsstrom wird wie eine Krankheit, eine Seuche aufgefasst, und die Menschen werden wie Krankheitsüberträger behandelt, vor denen man sich schützen muss.
Foto: Gerhard Roth
Auch ich bin offensichtlich nicht ganz willkommen, ich sitze mit Herrn Babler im Vorzimmer in einer kleinen Warteecke, und der Gemeindesekretär hat sich für mich ein Programm zurechtgelegt, das er eilig herunterspult. Inzwischen kommt der bisher abwesende Bürgermeister herein, der, wie Herr Babler sagt, den Weg \"der menschlichen Mitte\" gehen wolle, und verdrückt sich in seinen Amtsraum. Durch die kurz geöffnete Tür erkenne ich einen Wollteppich mit dem heimischen Kirchenmotiv. Auch hier Misstrauen und Klischeeantworten, man befindet sich eben in einer Zwangslage. Wir sind ein Land der Hochkultur einer täglich praktizierten Zwangslage. Herr Babler hat es außerdem eilig - eine Sitzung ist anberaumt. (Gerhard Roth, DER STANDARD; Printausgabe, 21.5.2007)
Der Schriftsteller Gerhard Roth hat mehrmals das Flüchtlingslager Traiskirchen besucht - Was er dort erlebte, hat er fotografiert und aufgeschrieben
Das zweite Mal kann ich mich schon orientieren und weiß, worauf ich achten muss. Bevor ich aber aufbreche, höre ich mich um und erfahre \"unter dem Siegel der Verschwiegenheit\" von einem ehemaligen Mitarbeiter im Lager, dass ein Amtsdirektor im Auftrag des Traiskirchner Lagerleiters Franz Schabhüttl \"Brandkontrollen\" durchführe. Er besichtige jeden Tag zu verschiedenen Zeiten unter diesem Vorwand jedes Zimmer, jeden Raum. Er gelte als \"Spion\" und erfülle seinen Auftrag lückenlos. Schabhüttl sei ja Polizist gewesen, ein \"Polizeifuchs\", und sein Zugang zu seiner Arbeit der eines Polizeibeamten geblieben. Er verfolge deshalb die Sozialarbeit mit Argwohn, mache sie lächerlich und verunglimpfe sie.
Im Grunde sei er der Meinung, dass man \"das alles\" nicht brauche. Engagierte Sozialarbeiter stellten für ihn eine Gefahr dar, da sie sich immer auf die Seite der Flüchtlinge schlügen, deren Probleme vertreten und ihm nur Schwierigkeiten bereiten würden. Bei Streitigkeiten werfe er automatisch alle beteiligten Flüchtlinge aus dem Lager, diese müssten dann von Sozialarbeitern anderswo wieder untergebracht werden. Es sei sinnlos, sich bei Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen, man müsse schon einen Umweg finden. Zwar toleriere er Soziales und verkaufe es auch stolz, in Wahrheit sei er aber nach wie vor skeptisch, was dessen Notwendigkeit betreffe.
Foto: Gerhard Roth
Wilhelm Brunner wird hingegen \"Bemühen\" attestiert. An European Homecare aber lässt der Augenzeuge kein gutes Haar und bezeichnet die Organisation abwertend als \"gewinnorientiert\" und \"verlängerten Arm der Regierung\". Sie sei auch den NGOs ein Dorn im Auge, diese würden ihr fehlendes Verständnis für die Betreuungsarbeit vorwerfen. Herr Brunner selbst ist von diesem Urteil, wie ich später feststelle, verletzt und versucht, über die anderen trotzdem kein schlechtes Wort zu sagen. Heftige Kritik wird von mehreren Seiten an der Bezirkshauptmannschaft Baden geübt, vor allem was die rigorose Ablehnung der Asylanträge betreffe.
Ein Beamter, dessen Bescheide in der Regel nicht rechtskonform seien, steht im Mittelpunkt, er wird als \"präpotent und frech\" beschrieben und gebe rasch verbale Drohungen von sich. Er habe es auch zu verantworten, dass es häufig zu Fällen von Schubhaft komme, die nachträglich wieder aufgehoben werden müsse, da sie von ihm zu Unrecht verhängt worden sei. Die betroffenen Asylanten würden dadurch jedoch traumatisiert. Der Geist der Fremdenpolizei in der Bezirkshauptmannschaft Baden sei von \"Gehässigkeit erfüllt\", sagt der Informant wörtlich. Er macht mich auch darauf aufmerksam, dass man das \"wahre Gesicht des Lagers\" erst erkennen könne, wenn mehr als 1000 Migranten und Asylanten sich in ihm aufhielten. Dann sei die Luft in den Räumen \"stickig\". Speziell bei der Essensausgabe herrsche \"knisternde Spannung\", bestätigt er.
Foto: Gerhard Roth
Als ich mich am 13. April dem Eingang des Lagers nähere, fallen mir in Pkws schlafende Asylanten am Straßenrand auf. Hinter dem Portiergebäude ein Hundezwinger für drei Schäferhunde. Einer von ihnen säuft gerade an der Leine eines Beamten der Siwach aus einem Napf. Franz Schabhüttl und Wilhelm Brunner erzählen mir gleich darauf, dass Fälle von Masern aufgetreten seien, und geben mir die Zahl der heutigen Belegung mit \"nur 486\" bekannt. Aber die Anlage wirkt viel lebendiger als das erste Mal. Vielleicht, weil ich früher gekommen bin. In der Kindergartenbaracke herrscht reger Betrieb, ein Mädchen mit Weihnachtsmann-Mütze träumt neben seiner Mutter vor sich hin, der Fernsehapparat läuft, und Chinesen- und Mongolenkinder strecken sich auf grünen Fauteuils aus, sehen fern oder setzen Puzzles zusammen. Im angrenzenden Klassenzimmer findet vor acht Männern und einer Frau Sprachunterricht statt, und auf dem Basketballplatz ist ein Spiel im Gange.
Wieder befällt mich Misstrauen, dass alles nur inszeniert ist und diesmal \"Normalbetrieb\" vorgeführt wird. Auch die Aufnahmestraße ist bevölkert, ich zähle siebzehn Personen, Männer, Frauen und drei Kinder. Ein Schwarzafrikaner schläft auf einer Bank. Das daktyloskopische Gerät ist in Betrieb, ein Polizeibeamter mit Gummihandschuhen drückt routiniert den Finger eines kurzhaarigen Mannes in Jeans, Turnschuhen und einem Polohemd auf den Scanner. Die vergrößerte Fingerbeere taucht auf dem Bildschirm auf, die feine Struktur von Parallelen und filigranen Turbulenzen ineinander übergehender Linien.
Weiter: Im Speisesaal: Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen
Im Speisesaal kommen wir diesmal zum Essen rechtzeitig. Allmählich füllt sich der große Raum. Es wird wieder das Freitagsessen serviert: Fisch, Kartoffeln, als Vorspeise Leberknödelsuppe, als Nachspeise eine Orange oder ein Apfel. Dazu kann Brot nach Bedarf aus einem Kunststoffbehälter entnommen werden. Mir fällt auf, wie viele Jugendliche und Kinder an den Tischen sitzen. Auch eine Frau mit seltsamem Gehabe, die Haare im Gesicht, einen braunen Topfhut auf dem Kopf, ist darunter, die offensichtlich psychisch krank ist. Sie wird nicht weiter beachtet, jeder konzentriert sich auf sein Essen.
Foto: Gerhard Roth
Während ich die Suppe zu mir nehme, treten zwei Männer, Palästinenser, wie sich herausstellt, an den Tisch und beschweren sich bei Herrn Brunner, dass nur heute das Essen gut sei, sonst gebe es so etwas nie. Einer der beiden stellt sich als Journalist vor und erklärt, dass er schon vierzehn Tage im Lager sei, aber noch nie eine Orange zu Gesicht bekommen habe. Herr Brunner und ein Schwarzafrikaner, der für den reibungslosen Ablauf sorgen soll, verwickeln die beiden in eine Debatte, aber nun kritisieren auch zwei weitere Asylanten den Speiseplan. Ein Schwarzafrikaner, der am selben Tisch sitzt wie ich, lässt inzwischen alles bis auf den Salat stehen und kostet nur vom Fisch, der ihm nicht schmeckt - anstelle der Kartoffeln sei er Yam-Wurzeln gewöhnt, sagt er. Ich habe die Mahlzeit aber gut gefunden, und die meisten im Speisesaal machen - zumindest heute - einen zufriedenen Eindruck. Ich bleibe eine Dreiviertelstunde. Mir ist klar, dass ich auch bei weiteren Besuchen kein umfassendes Urteil über den Betrieb im Lager und den normalen Alltag würde abgeben können. Alle, mit denen ich spreche, kritisieren, dass sie nicht arbeiten dürfen. Das geschehe wohl, sagt Herr Brunner, um Österreich nicht als Asylland attraktiv zu machen.
Weiter:Gespräche mit der Psychologin
Selbst die Psychologin kann ich an diesem Tag sprechen, sie ist allerdings durch die Anwesenheit meiner Begleiter auffallend vorsichtig. Ich frage sie nach den Traumatisierten. Die meisten kämen aus der Russischen Föderation, Afrikaner suchten sie weniger auf, antwortet sie. Wenn die Flüchtlinge im Lager wieder mehr Zeit hätten und zu sich kämen, kehrten auch die schrecklichen Erinnerungen verstärkt ins Bewusstsein zurück. Traumatisierte könnten untereinander nicht über ihre Probleme sprechen. Zudem hingen sie in der Luft: Der Ausgang ihres Verfahrens sei ungewiss, sie dürften nicht arbeiten, hätten wenig Geld und spürten, dass sie nicht willkommen seien, so wie sie es erwartet hätten. Arbeit sei für sie das Allerwichtigste. Keiner käme - darin sind sich auch Schabhüttl und Brunner einig -, um, wie sie sagen, \"in der sozialen Hängematte zu liegen\". Vom Augenblick an, an dem sie arbeiten dürften, würden die Flüchtlinge auch nicht mehr die Beratungsstelle aufsuchen, ergänzt die Psychologin.
Kaum hat sie den Satz beendet, wird die Tür aufgerissen, und ein Mann tritt ohne anzuklopfen ein, geht aber sofort, als er Herrn Schabhüttl registriert, wieder hinaus. Es ist tatsächlich, wird mir auf meine Frage bestätigt, der so genannte \"Brandschutzbeauftragte\" gewesen, von dem die Rede war. Ich benutze die Gelegenheit, um mich nach dem Beamten bei der Fremdenpolizei in Baden zu erkundigen, der angeblich die Flüchtlinge mit seinen Asylverfahren schikanieren soll. Herr Schabhüttl ist jedoch voll des Lobes für ihn und gerät in einem Atemzug über ihn und den \"Brandschutzbeauftragten\" ins Schwärmen.
Foto: Gerhard Roth
Auf meine Frage nach den größten Problemen im Lager antwortet die Psychologin später: Gewalt jeglicher Art, Streit zwischen Ehepaaren oder Verzweiflung über die Trennung, Unruhe, Schlaflosigkeit, Depressionen, Mobbing, auch Frauen gingen aufeinander los. Im Objekt 8, erfahre ich weiter, im Frauenhaus, wohne jetzt die Asylantin mit dem braunen Topfhut, die ich im Speisesaal gesehen habe, in einem Einzelzimmer, sie bekäme einen Sachwalter. Es gebe Psychotiker, die durch die ganze Welt \"tingelten\", erklärt die Psychologin.
Vor dem Lagerausgang weist mich Franz Schabhüttl auf das Biotop mit zwei Rotwangenschildkröten hin, die träge durch das braune Wasser paddeln, und die schönen Goldfische. Auch zwei oder drei Aale gebe es. Vor allem aber brütete eine Wildente hier, European Homecare müsse für den Entenlaufsteg sorgen, berichtet er stolz.
Ich sage zum Abschied, dass ich in zwei Tagen zur Schubhaft in die \"Liesl\" an der Rossauer Lände gehen würde. Der Kanton Bern in der Schweiz, antwortet Herr Brunner daraufhin, würde abgelehnte Asylwerber in einen Bergstollen am Jaunpass \"verfrachten\", damit die Asylanten das Weite suchten. Zu Hause finde ich im Internet unter www.tagesschau.de den Artikel vom 9. Juni 2004, daraus geht hervor, dass es sich um einen kalten, fensterlosen Betonunterstand in 1500 Meter Höhe handelt, in dem 100 Menschen untergebracht werden können. Diese würden mit der Absicht in den Bunker geschickt, erklärt die Polizei- und Militärdirektorin Dora Andres, \"dass sie wissen, wir sind wirklich nicht mehr willkommen, wir müssen den Entscheid, dass wir illegal sind, akzeptieren und die Schweiz verlassen\". In Australien geht man noch brutaler vor, dort sperrt man illegale Immigranten in umzäunte Lager auf einer Insel weg, lese ich später in Umgang mit Flüchtlingen von Wolfgang Benz.
Weiter: Misstrauen und Klischeeantworten
Bevor ich das Rathaus am Hauptplatz von Traiskirchen betrete, habe ich die barocke Pestsäule mit einer Figur des Heiligen Sebastian fotografiert, der von vier vergoldeten Pfeilen in den Beinen und der Brust getroffen ist. Der sozialdemokratische Bürgermeister Fritz Knozter hat, nachdem ich den ersten Termin nicht einhalten konnte, keinen weiteren für mich frei. Irgendwann, sagt sein Sekretär Andreas Babler, der ihn vertritt, habe sein Chef einem Journalisten gegenüber eine unbedachte Äußerung über Lagerbewohner gemacht, und das sei dann in der Presse \"breitgetreten\" worden. Er will aber darauf nicht eingehen. Und als Herr Babler mir den Gemeinderatsbeschluss erläutert: sofortige Reduzierung der Migranten und Asylanten im Lager auf 300 und mittelfristig die Schließung des Lagers - \"Wir wollen das Lager weghaben, aber wir haben keine Kompetenz!\" -, fallen mir wieder die Pestsäule und der Heilige Sebastian vor dem Rathaus ein. Der Flüchtlingsstrom wird wie eine Krankheit, eine Seuche aufgefasst, und die Menschen werden wie Krankheitsüberträger behandelt, vor denen man sich schützen muss.
Foto: Gerhard Roth
Auch ich bin offensichtlich nicht ganz willkommen, ich sitze mit Herrn Babler im Vorzimmer in einer kleinen Warteecke, und der Gemeindesekretär hat sich für mich ein Programm zurechtgelegt, das er eilig herunterspult. Inzwischen kommt der bisher abwesende Bürgermeister herein, der, wie Herr Babler sagt, den Weg \"der menschlichen Mitte\" gehen wolle, und verdrückt sich in seinen Amtsraum. Durch die kurz geöffnete Tür erkenne ich einen Wollteppich mit dem heimischen Kirchenmotiv. Auch hier Misstrauen und Klischeeantworten, man befindet sich eben in einer Zwangslage. Wir sind ein Land der Hochkultur einer täglich praktizierten Zwangslage. Herr Babler hat es außerdem eilig - eine Sitzung ist anberaumt. (Gerhard Roth, DER STANDARD; Printausgabe, 21.5.2007)
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Ins Ungewisse - Teil III
Der Schriftsteller Gerhard Roth hat österreichische Flüchtlingslager besucht - Was er erlebte, hat er für den STANDARD aufgeschrieben
Michael Chalupka, Direktor der Diakonie, hat für ein Gespräch in Graz Zeit. Er berichtet von den Folgen der Verschärfungen des Fremdengesetzes, kritisiert die lange Dauer der Asylverfahren und kennt auch die Ursache: Die Beamtenschaft sei auf 10.000 Anträge im Jahr eingerichtet. In den vergangenen zwei Jahren habe es aber 30.000 gegeben, ohne dass personell darauf reagiert worden sei. Erst seit eineinhalb Jahren gebe es einige Beamten mehr. Durch die schlechte Personalausstattung fälle die erste Instanz fehlerhafte Urteile. 2005 seien 40 Prozent aller erstinstanzlichen Urteile wegen Verfahrensmängeln aufgehoben worden. Er verlangt, dass schon während des ersten Asylverfahrens eine Arbeitserlaubnis erteilt werde. Auch Deutschkurse müssten intensiver durchgeführt werden. Damit ein Asylant eine Arbeitserlaubnis als Selbstständiger erlangen könne, müsse er einen behördlichen Spießrutenlauf über sich ergehen lassen, 40 Prozent der Immigranten arbeiteten unter ihrer Qualifikation. Es gebe rund 1000 13- bis 14-jährige Flüchtlinge, sie dürften aber nach der Hauptschule nicht als Lehrlinge einer Ausbildung nachgehen.
Der Verwaltungsgerichtshofpräsident Clemens Jabloner sage zum Dublinabkommen, zitiert Chalupka, es sei unrecht. Man könne nicht jemanden einsperren, um festzustellen, welcher Staat für ihn zuständig sei. Wenn man ein Asylverfahren nach sechs Jahren nicht abschließen könne, ergänzt Herr Chalupka, müsse man die Antragsteller automatisch legalisieren. Er betont auch die Vorzüge der NGOs wie Caritas und Diakonie gegenüber European Homecare in der Flüchtlingsbetreuung: Ihre Mitarbeiter müssten mit dem Gewissen vereinbaren können, wenn sie jemanden zurückschickten. Das könne nur in der Überzeugung geschehen, dass die Betreffenden keinen Schaden erlitten.
Im ehemaligen Gästehaus der Diakonie im steirischen Deutschfeistritz, das von der evangelischen Kirche 1956 als Landschulheim für Mädchen erbaut wurde, leben 69 Flüchtlinge: 60 Tschetschenen, sechs Georgier und drei Armenier in 36 Zimmern mit Fernsehapparaten. Die Anlage ist zwölf Gehminuten vom Ort entfernt. Die Eltern der untergebrachten Familien sind 20 bis 40 Jahre alt und haben zwei bis drei Kinder. Es gibt unter ihnen eine Lehrerin, Handwerker und Männer, die Bauern waren, aber keine berufliche Ausbildung genossen haben. Die jungen Frauen würden, sagt man mir, von den Familien verheiratet, es habe sogar schon eine Hochzeit im \"Lager\" gegeben. Zuerst würde ein Treffen \"unter Beobachtung\" vereinbart. Anschließend würde die 16- bis 17-jährige Braut gefragt, ob sie den Mann \"möchte\". Sei das nicht der Fall, würde sie so lange weinen, bis man ihre Entscheidung akzeptiere oder sie sich füge. Der junge Mann könne sich, wenn er die Frau nicht wolle, nur wie \"ein Idiot\" verhalten, um sie abzuschrecken.
Foto: Gerhard Roth
Die wichtigsten Informationen erhalte ich gleich zu Beginn: Am Tag sind für die Flüchtlinge drei Mitarbeiter ansprechbar, in der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen einer. Es gibt ärztliche Betreuung durch einen Doktor im Ort, bei Bedarf mache auch ein Psychiater eine Visite. In den letzten zwei Jahren kamen im Landeskrankenhaus Graz sieben Kinder von Flüchtlingen aus dem Lager zur Welt. Den Hausputz führe jeweils eine Frau für 15 Euro pro Woche durch, einmal, am Sonntag, erfolge ein Generalputz, der aber nur von Frauen durchgeführt werde. Alle Nahrungsmittel würden von den Familien selbst eingekauft, 110 Euro pro Monat und Person stünden dafür zur Verfügung. Den Weg in das Dorf hin mit leeren und zurück mit vollen Taschen machten allerdings nur die Frauen.
Lesen Sie weiter: Manche Flüchtlingsfamilien warten schon seit Öffnung des Quartiers vor drei Jahren, einzelne mehr als vier Jahre auf den Asylbescheid.
Manche Flüchtlingsfamilien warten schon seit Öffnung des Quartiers vor drei Jahren, einzelne mehr als vier Jahre auf den Asylbescheid. Die meisten sagen, sie würden nach Tschetschenien zurückkehren, sobald es dort wieder friedlich sei. Und alle bestätigen, dass es hier besser sei als in den Gasthöfen, in denen sie vorher untergebracht waren. Über Traiskirchen hört man Unterschiedliches: Der Großteil, der nach 2004 in das Lager kam, war zufrieden, doch jene aus der Zeit vorher, als das Lager überfüllt war, klagen, dass die Unterbringung \"entsetzlich\" gewesen sei und das Essen schlecht - \"immer Makkaroni\". Täglich seien am Morgen zwischen 7 und 8 Uhr vier bis fünf Polizisten erschienen und hätten Kontrollen vorgenommen (da nachts Flüchtlinge über den Zaun geklettert und im Lager verschwunden seien, wie mir Wilhelm Brunner später erklärt).
Foto: Gerhard Roth
Einige Bewohner spielen mir ein Videoband mit Aufnahmen aus dem Tschetschenienkrieg vor, das die Frauen weinen lässt: brennende und zerstörte Häuser, Gehängte, Lastwagenwracks, Rauchschwaden über Ruinen. Es folgt eine Dokumentation in Schwarz-Weiß über tschetschenische Widerstandskämpfer. Ich erfahre, dass alle Lagerinsassen Muslime sind, der Großteil könne aber den Koran nicht lesen, da er nicht ins Tschetschenische übersetzt sei. Sie würden daher den Inhalt nur aus der mündlichen Überlieferung kennen. Über den Alltag erfährt man nicht viel, weil niemand über Schwarzarbeit sprechen will. Da die Männer zwangsläufig untätig sein müssten, schliefen sie lange und sähen nachts fern, einzelne säßen an Computern, die sie aus dem Sperrmüll geklaubt und selbst zusammengebaut hätten. Überall auf den Dächern, fällt mir auf, gibt es Fernsehschüsseln, denn es wird kaum das ORF-Programm angeschaut, stattdessen das russische Fernsehen, um vielleicht etwas über Tschetschenien zu erfahren. Die Kinder gingen mit einer Ausnahme in den Kindergarten beziehungsweise besuchten die Volks- oder Hauptschule. Natürlich besäße jede Familie ein Handy. Auch in der Fremde funktioniert das tschetschenische Klanwesen, man sei untereinander stets in Verbindung und tausche Neuigkeiten und Erfahrungen aus.
Vor allem über das Sozialsystem, über das Klarsichtmappen existieren, wisse man genau Bescheid. Gut Qualifizierte ließen sich auch vermitteln, wird von der Betreuerin betont, so arbeiteten zwei ehemalige Bewohner bei Magna - dort sei man mit ihnen sehr zufrieden. Die Prognosen der Betreuer über die Zukunft der Mehrheit der tschetschenischen Flüchtlinge kommen nur zögerlich. Schon aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse seien die Chancen reduziert. Nur drei Männer würden regelmäßig den Deutschkurs besuchen - ich selbst stelle fest, dass ich am besten mit den Kindern, die hier zur Schule gehen, und einigen Frauen, die sich Mühe geben, spreche. Die Männer blieben hingegen fast alle stumm. Sie hätten keine Lebensplanung, säßen nur da und warteten, erfahre ich. Die Betreuerinnen, Ilse Steinort und Katharina Laube, eine Schweizerin, führen mich durch beide Gebäude und lassen mir hierauf freie Hand.
Foto: Gerhard Roth
In der Gemeinschaftsküche bäckt eine junge Frau mit Kopftuch eine Torte, eine andere bereitet eine Suppe aus Hühnerklein zu, ein Bub fährt mit einem Dreirad über den Parkettboden, und ein Mädchen mit großen Augen schaukelt ein Baby. Die Zimmer sind wie in einem bürgerlichen Gasthof möbliert, und im zweiten Gebäude gibt es zwei Schulungsräume, in denen Landkarten mit der Aufschrift \"Die wirtschaftliche Nutzung Europas\" oder \"Die Erde. Politische Übersicht\" hängen. Kinder und Frauen und zwei Männer stellen sich auf meinen Wunsch davor auf, und ich fotografiere sie. Als ich einen Buben bitte, sich zu vier Mädchen zu stellen, lehnt er es selbstbewusst ab. Der Studienraum mit Polsterstühlen und einem Flipchart, dessen erste Seite mit Begriffen beschrieben ist, über die Kinder mit Filzstiften Linien gekritzelt haben, ist leer. Der Bub, der mir gefolgt ist, nimmt jetzt stolz vor der Tafel Aufstellung, die Hände in den Taschen einer mit Tarnmuster gefleckten Hose. Die Panoramafenster geben einen weiten Blick auf die bewaldete Landschaft frei. Der muslimische Gebetsraum im selben Stockwerk hat weiße Wände und einen weißen Teppichboden. Darauf liegt ein kleiner Läufer in einer Ecke, der nach Mekka zeigt. Zu meiner Überraschung schlägt der Junge, der mich weiter begleitet hat, lachend Räder und wirbelt im Gebetsraum übermütig durch die Luft, als versuche er, die Schwerelosigkeit zu überwinden.
Lesen Sie weiter: Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem.
Ich lehne mich an den Türstock und schaue ihm zu. Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem. Die Gesellschaft zeigt den jungen Männern und Frauen zumeist die kalte Schulter. Ihre Ausbildung ist oft auch mangelhaft, und wenn es um einen Job geht, werden \"echte\" Inländer vorgezogen. Spätestens seit den Vorfällen in Paris in den Banlieues und in London nach dem U-Bahn-Anschlag vor zwei Jahren, der 52 Menschen das Leben kostete und von jungen muslimischen Selbstmordattentätern geplant worden war, die englische Staatsbürger waren, weiß man um die Probleme. Viele aus den verlorenen Generationen, die den vergeblichen Wunsch hatten, sich zu integrieren, wendeten sich, nachdem sie die Zurückweisung durch die Gesellschaft erfahren hatten, enttäuscht radikalen muslimischen Organisationen zu.
Ich warte, bis der Bub auf den Boden kullert und hinausläuft, und gehe noch einmal zurück in den Schulungsraum mit Landkarten. Dort unterrichtet jetzt eine blonde Lehrerin drei tschetschenische Mädchen. Eines von ihnen hat soeben seine Hausaufgabe gemacht. In schöner Schrift ist mit blauer Tinte fehlerlos in das Heft geschrieben: \"... Hannes hält einen Frosch in der Hand. Seine Mutter mahnt ihn: \'Sei vorsichtig und quäle ihn nicht. Frösche sind sehr empfindliche Tiere.\' Schiebt die Bänke auf die Seite, damit wir mehr Platz haben! Zieh dir eine warme Weste an. Draußen bläst ein kalter Wind.\" Zu Hause lese ich die \"Einzelfälle\", die mir Chalupka zu unserem Gespräch mitgebracht hat, die Leidenswege von Flüchtlingen im Papierkrieg mit den Behörden.
Foto: Gerhard Roth
Auch die Fremdenpolizei kennt Einzelfälle und stellt sie gleich für das Ganze. Eine halbe bis eineinhalb Millionen illegaler Migranten hielten sich in Europa auf, sagt mir der hohe Beamte. Ich spüre sein Misstrauen und seinen Unwillen, da er nicht den Anschein einer Rechtfertigung erwecken will. Die Integration in Deutschland scheitere an den Millionen Arbeitslosen im eigenen Land, fährt er fort. Darüber hinaus suchten sieben Millionen legale Migranten in Europa Arbeit. Der Großteil der Illegalen habe keine Ausbildung und nur mangelhafte Sprachkenntnisse. Sie belasteten, sobald sie legal würden, das Sozialsystem. In den letzten vier Jahren hätte sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Wien verdoppelt. Der Beamte führt das vor allem auf die Migration zurück. Er sieht in den NGOs und den Grünen seine wahren Gegner, die ihm die Ausführung seiner Pflicht erschwerten und ihn verleumdeten. Er sei kein FPÖ-Wähler, fügt er von selbst hinzu. Er lässt mich kaum zu Wort kommen, und sein Vortrag ist eine Mischung aus Information und Belehrung. Schubhaft würde nur verhängt, weil die Häftlinge nicht den behördlichen Bescheiden Folge geleistet hätten, alteriert er sich. Wären sie ausgereist, wäre ihnen nichts geschehen.
Aber wohin, frage ich mich, wenn sie zu Hause keine Existenzmöglichkeit vorfinden? Die meisten, fährt der Beamte fort, hätten keine Papiere, aber bei Eheschließungen mit \"Einheimischen\" tauchten sie zu 50 Prozent wieder auf, obwohl sie sonst nie vorhanden gewesen seien. Eine Chinesin habe vier Identitäten besessen, bevor sie am Standesamt die richtige angegeben habe. Hierauf sei sie wegen illegalen Aufenthalts abgeschoben worden. Der erste Versuch habe wegen ihres Tobsuchtsanfalles abgebrochen werden müssen. Für den zweiten Versuch seien drei Beamte nötig gewesen. Die Kosten hätten sich auf 6000 Euro belaufen, der Bescheid sei dem Ehemann zugestellt worden. Das sei die Gesetzeslage der Steuerzahler, sagt der Beamte, während ich an den Mann und die Frau denke.
Unter den Migranten gebe es auch mehr und mehr Kriminelle, fährt er fort. Werde ein des Einbruchs verdächtigter Ausländer verhaftet, suche er sofort um Asyl an, und der damit befasste Beamte dürfe sich von der Vorgeschichte laut Gesetz nicht beeinflussen lassen. Er dürfe nur die Asylgründe abwägen. Der Beamte erklärt mir jedes Mal, wenn er mir etwas gesagt hat, wann ich ihn zitieren dürfe und wann nicht, weshalb ich schließlich ganz darauf verzichte, seinen Namen zu nennen. Er ist ein durch und durch beamtenaristokratischer Mann, selbstbewusst und gekränkt über Missverständnisse, Verleumdungen und Denunziationen seiner Gegner, die vorwiegend mit Unterstellungen arbeiten würden. Er halte sich an das Gesetz, betont er immer wieder und stellt es nicht infrage. Auf die Nennung des Fremdenpolizisten in der Bezirkshauptmannschaft Baden, der angeblich mit Vorliebe negative Bescheide ausstelle, reagiert er abwehrend und mit der apodiktischen Verteidigung, der Beamte verrichte seine Arbeit sehr gut, er kenne ihn persönlich. (Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 22.5.2007)
http://derstandard.at/?id=2889222
Der Schriftsteller Gerhard Roth hat österreichische Flüchtlingslager besucht - Was er erlebte, hat er für den STANDARD aufgeschrieben
Michael Chalupka, Direktor der Diakonie, hat für ein Gespräch in Graz Zeit. Er berichtet von den Folgen der Verschärfungen des Fremdengesetzes, kritisiert die lange Dauer der Asylverfahren und kennt auch die Ursache: Die Beamtenschaft sei auf 10.000 Anträge im Jahr eingerichtet. In den vergangenen zwei Jahren habe es aber 30.000 gegeben, ohne dass personell darauf reagiert worden sei. Erst seit eineinhalb Jahren gebe es einige Beamten mehr. Durch die schlechte Personalausstattung fälle die erste Instanz fehlerhafte Urteile. 2005 seien 40 Prozent aller erstinstanzlichen Urteile wegen Verfahrensmängeln aufgehoben worden. Er verlangt, dass schon während des ersten Asylverfahrens eine Arbeitserlaubnis erteilt werde. Auch Deutschkurse müssten intensiver durchgeführt werden. Damit ein Asylant eine Arbeitserlaubnis als Selbstständiger erlangen könne, müsse er einen behördlichen Spießrutenlauf über sich ergehen lassen, 40 Prozent der Immigranten arbeiteten unter ihrer Qualifikation. Es gebe rund 1000 13- bis 14-jährige Flüchtlinge, sie dürften aber nach der Hauptschule nicht als Lehrlinge einer Ausbildung nachgehen.
Der Verwaltungsgerichtshofpräsident Clemens Jabloner sage zum Dublinabkommen, zitiert Chalupka, es sei unrecht. Man könne nicht jemanden einsperren, um festzustellen, welcher Staat für ihn zuständig sei. Wenn man ein Asylverfahren nach sechs Jahren nicht abschließen könne, ergänzt Herr Chalupka, müsse man die Antragsteller automatisch legalisieren. Er betont auch die Vorzüge der NGOs wie Caritas und Diakonie gegenüber European Homecare in der Flüchtlingsbetreuung: Ihre Mitarbeiter müssten mit dem Gewissen vereinbaren können, wenn sie jemanden zurückschickten. Das könne nur in der Überzeugung geschehen, dass die Betreffenden keinen Schaden erlitten.
Im ehemaligen Gästehaus der Diakonie im steirischen Deutschfeistritz, das von der evangelischen Kirche 1956 als Landschulheim für Mädchen erbaut wurde, leben 69 Flüchtlinge: 60 Tschetschenen, sechs Georgier und drei Armenier in 36 Zimmern mit Fernsehapparaten. Die Anlage ist zwölf Gehminuten vom Ort entfernt. Die Eltern der untergebrachten Familien sind 20 bis 40 Jahre alt und haben zwei bis drei Kinder. Es gibt unter ihnen eine Lehrerin, Handwerker und Männer, die Bauern waren, aber keine berufliche Ausbildung genossen haben. Die jungen Frauen würden, sagt man mir, von den Familien verheiratet, es habe sogar schon eine Hochzeit im \"Lager\" gegeben. Zuerst würde ein Treffen \"unter Beobachtung\" vereinbart. Anschließend würde die 16- bis 17-jährige Braut gefragt, ob sie den Mann \"möchte\". Sei das nicht der Fall, würde sie so lange weinen, bis man ihre Entscheidung akzeptiere oder sie sich füge. Der junge Mann könne sich, wenn er die Frau nicht wolle, nur wie \"ein Idiot\" verhalten, um sie abzuschrecken.
Foto: Gerhard Roth
Die wichtigsten Informationen erhalte ich gleich zu Beginn: Am Tag sind für die Flüchtlinge drei Mitarbeiter ansprechbar, in der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen einer. Es gibt ärztliche Betreuung durch einen Doktor im Ort, bei Bedarf mache auch ein Psychiater eine Visite. In den letzten zwei Jahren kamen im Landeskrankenhaus Graz sieben Kinder von Flüchtlingen aus dem Lager zur Welt. Den Hausputz führe jeweils eine Frau für 15 Euro pro Woche durch, einmal, am Sonntag, erfolge ein Generalputz, der aber nur von Frauen durchgeführt werde. Alle Nahrungsmittel würden von den Familien selbst eingekauft, 110 Euro pro Monat und Person stünden dafür zur Verfügung. Den Weg in das Dorf hin mit leeren und zurück mit vollen Taschen machten allerdings nur die Frauen.
Lesen Sie weiter: Manche Flüchtlingsfamilien warten schon seit Öffnung des Quartiers vor drei Jahren, einzelne mehr als vier Jahre auf den Asylbescheid.
Manche Flüchtlingsfamilien warten schon seit Öffnung des Quartiers vor drei Jahren, einzelne mehr als vier Jahre auf den Asylbescheid. Die meisten sagen, sie würden nach Tschetschenien zurückkehren, sobald es dort wieder friedlich sei. Und alle bestätigen, dass es hier besser sei als in den Gasthöfen, in denen sie vorher untergebracht waren. Über Traiskirchen hört man Unterschiedliches: Der Großteil, der nach 2004 in das Lager kam, war zufrieden, doch jene aus der Zeit vorher, als das Lager überfüllt war, klagen, dass die Unterbringung \"entsetzlich\" gewesen sei und das Essen schlecht - \"immer Makkaroni\". Täglich seien am Morgen zwischen 7 und 8 Uhr vier bis fünf Polizisten erschienen und hätten Kontrollen vorgenommen (da nachts Flüchtlinge über den Zaun geklettert und im Lager verschwunden seien, wie mir Wilhelm Brunner später erklärt).
Foto: Gerhard Roth
Einige Bewohner spielen mir ein Videoband mit Aufnahmen aus dem Tschetschenienkrieg vor, das die Frauen weinen lässt: brennende und zerstörte Häuser, Gehängte, Lastwagenwracks, Rauchschwaden über Ruinen. Es folgt eine Dokumentation in Schwarz-Weiß über tschetschenische Widerstandskämpfer. Ich erfahre, dass alle Lagerinsassen Muslime sind, der Großteil könne aber den Koran nicht lesen, da er nicht ins Tschetschenische übersetzt sei. Sie würden daher den Inhalt nur aus der mündlichen Überlieferung kennen. Über den Alltag erfährt man nicht viel, weil niemand über Schwarzarbeit sprechen will. Da die Männer zwangsläufig untätig sein müssten, schliefen sie lange und sähen nachts fern, einzelne säßen an Computern, die sie aus dem Sperrmüll geklaubt und selbst zusammengebaut hätten. Überall auf den Dächern, fällt mir auf, gibt es Fernsehschüsseln, denn es wird kaum das ORF-Programm angeschaut, stattdessen das russische Fernsehen, um vielleicht etwas über Tschetschenien zu erfahren. Die Kinder gingen mit einer Ausnahme in den Kindergarten beziehungsweise besuchten die Volks- oder Hauptschule. Natürlich besäße jede Familie ein Handy. Auch in der Fremde funktioniert das tschetschenische Klanwesen, man sei untereinander stets in Verbindung und tausche Neuigkeiten und Erfahrungen aus.
Vor allem über das Sozialsystem, über das Klarsichtmappen existieren, wisse man genau Bescheid. Gut Qualifizierte ließen sich auch vermitteln, wird von der Betreuerin betont, so arbeiteten zwei ehemalige Bewohner bei Magna - dort sei man mit ihnen sehr zufrieden. Die Prognosen der Betreuer über die Zukunft der Mehrheit der tschetschenischen Flüchtlinge kommen nur zögerlich. Schon aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse seien die Chancen reduziert. Nur drei Männer würden regelmäßig den Deutschkurs besuchen - ich selbst stelle fest, dass ich am besten mit den Kindern, die hier zur Schule gehen, und einigen Frauen, die sich Mühe geben, spreche. Die Männer blieben hingegen fast alle stumm. Sie hätten keine Lebensplanung, säßen nur da und warteten, erfahre ich. Die Betreuerinnen, Ilse Steinort und Katharina Laube, eine Schweizerin, führen mich durch beide Gebäude und lassen mir hierauf freie Hand.
Foto: Gerhard Roth
In der Gemeinschaftsküche bäckt eine junge Frau mit Kopftuch eine Torte, eine andere bereitet eine Suppe aus Hühnerklein zu, ein Bub fährt mit einem Dreirad über den Parkettboden, und ein Mädchen mit großen Augen schaukelt ein Baby. Die Zimmer sind wie in einem bürgerlichen Gasthof möbliert, und im zweiten Gebäude gibt es zwei Schulungsräume, in denen Landkarten mit der Aufschrift \"Die wirtschaftliche Nutzung Europas\" oder \"Die Erde. Politische Übersicht\" hängen. Kinder und Frauen und zwei Männer stellen sich auf meinen Wunsch davor auf, und ich fotografiere sie. Als ich einen Buben bitte, sich zu vier Mädchen zu stellen, lehnt er es selbstbewusst ab. Der Studienraum mit Polsterstühlen und einem Flipchart, dessen erste Seite mit Begriffen beschrieben ist, über die Kinder mit Filzstiften Linien gekritzelt haben, ist leer. Der Bub, der mir gefolgt ist, nimmt jetzt stolz vor der Tafel Aufstellung, die Hände in den Taschen einer mit Tarnmuster gefleckten Hose. Die Panoramafenster geben einen weiten Blick auf die bewaldete Landschaft frei. Der muslimische Gebetsraum im selben Stockwerk hat weiße Wände und einen weißen Teppichboden. Darauf liegt ein kleiner Läufer in einer Ecke, der nach Mekka zeigt. Zu meiner Überraschung schlägt der Junge, der mich weiter begleitet hat, lachend Räder und wirbelt im Gebetsraum übermütig durch die Luft, als versuche er, die Schwerelosigkeit zu überwinden.
Lesen Sie weiter: Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem.
Ich lehne mich an den Türstock und schaue ihm zu. Die Kinder der Flüchtlinge sind, was die Integration betrifft, das größere Problem. Die Gesellschaft zeigt den jungen Männern und Frauen zumeist die kalte Schulter. Ihre Ausbildung ist oft auch mangelhaft, und wenn es um einen Job geht, werden \"echte\" Inländer vorgezogen. Spätestens seit den Vorfällen in Paris in den Banlieues und in London nach dem U-Bahn-Anschlag vor zwei Jahren, der 52 Menschen das Leben kostete und von jungen muslimischen Selbstmordattentätern geplant worden war, die englische Staatsbürger waren, weiß man um die Probleme. Viele aus den verlorenen Generationen, die den vergeblichen Wunsch hatten, sich zu integrieren, wendeten sich, nachdem sie die Zurückweisung durch die Gesellschaft erfahren hatten, enttäuscht radikalen muslimischen Organisationen zu.
Ich warte, bis der Bub auf den Boden kullert und hinausläuft, und gehe noch einmal zurück in den Schulungsraum mit Landkarten. Dort unterrichtet jetzt eine blonde Lehrerin drei tschetschenische Mädchen. Eines von ihnen hat soeben seine Hausaufgabe gemacht. In schöner Schrift ist mit blauer Tinte fehlerlos in das Heft geschrieben: \"... Hannes hält einen Frosch in der Hand. Seine Mutter mahnt ihn: \'Sei vorsichtig und quäle ihn nicht. Frösche sind sehr empfindliche Tiere.\' Schiebt die Bänke auf die Seite, damit wir mehr Platz haben! Zieh dir eine warme Weste an. Draußen bläst ein kalter Wind.\" Zu Hause lese ich die \"Einzelfälle\", die mir Chalupka zu unserem Gespräch mitgebracht hat, die Leidenswege von Flüchtlingen im Papierkrieg mit den Behörden.
Foto: Gerhard Roth
Auch die Fremdenpolizei kennt Einzelfälle und stellt sie gleich für das Ganze. Eine halbe bis eineinhalb Millionen illegaler Migranten hielten sich in Europa auf, sagt mir der hohe Beamte. Ich spüre sein Misstrauen und seinen Unwillen, da er nicht den Anschein einer Rechtfertigung erwecken will. Die Integration in Deutschland scheitere an den Millionen Arbeitslosen im eigenen Land, fährt er fort. Darüber hinaus suchten sieben Millionen legale Migranten in Europa Arbeit. Der Großteil der Illegalen habe keine Ausbildung und nur mangelhafte Sprachkenntnisse. Sie belasteten, sobald sie legal würden, das Sozialsystem. In den letzten vier Jahren hätte sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in Wien verdoppelt. Der Beamte führt das vor allem auf die Migration zurück. Er sieht in den NGOs und den Grünen seine wahren Gegner, die ihm die Ausführung seiner Pflicht erschwerten und ihn verleumdeten. Er sei kein FPÖ-Wähler, fügt er von selbst hinzu. Er lässt mich kaum zu Wort kommen, und sein Vortrag ist eine Mischung aus Information und Belehrung. Schubhaft würde nur verhängt, weil die Häftlinge nicht den behördlichen Bescheiden Folge geleistet hätten, alteriert er sich. Wären sie ausgereist, wäre ihnen nichts geschehen.
Aber wohin, frage ich mich, wenn sie zu Hause keine Existenzmöglichkeit vorfinden? Die meisten, fährt der Beamte fort, hätten keine Papiere, aber bei Eheschließungen mit \"Einheimischen\" tauchten sie zu 50 Prozent wieder auf, obwohl sie sonst nie vorhanden gewesen seien. Eine Chinesin habe vier Identitäten besessen, bevor sie am Standesamt die richtige angegeben habe. Hierauf sei sie wegen illegalen Aufenthalts abgeschoben worden. Der erste Versuch habe wegen ihres Tobsuchtsanfalles abgebrochen werden müssen. Für den zweiten Versuch seien drei Beamte nötig gewesen. Die Kosten hätten sich auf 6000 Euro belaufen, der Bescheid sei dem Ehemann zugestellt worden. Das sei die Gesetzeslage der Steuerzahler, sagt der Beamte, während ich an den Mann und die Frau denke.
Unter den Migranten gebe es auch mehr und mehr Kriminelle, fährt er fort. Werde ein des Einbruchs verdächtigter Ausländer verhaftet, suche er sofort um Asyl an, und der damit befasste Beamte dürfe sich von der Vorgeschichte laut Gesetz nicht beeinflussen lassen. Er dürfe nur die Asylgründe abwägen. Der Beamte erklärt mir jedes Mal, wenn er mir etwas gesagt hat, wann ich ihn zitieren dürfe und wann nicht, weshalb ich schließlich ganz darauf verzichte, seinen Namen zu nennen. Er ist ein durch und durch beamtenaristokratischer Mann, selbstbewusst und gekränkt über Missverständnisse, Verleumdungen und Denunziationen seiner Gegner, die vorwiegend mit Unterstellungen arbeiten würden. Er halte sich an das Gesetz, betont er immer wieder und stellt es nicht infrage. Auf die Nennung des Fremdenpolizisten in der Bezirkshauptmannschaft Baden, der angeblich mit Vorliebe negative Bescheide ausstelle, reagiert er abwehrend und mit der apodiktischen Verteidigung, der Beamte verrichte seine Arbeit sehr gut, er kenne ihn persönlich. (Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 22.5.2007)
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Ins Ungewisse - Teil IV
Der Schriftsteller Gerhard Roth besucht das Polizeigefängnis Roßauer Lände, in dem Schubhäftlinge auf ihre Abschiebung warten
Auch in der \"Liesl\", dem Polizeigefängnis an der Roßauer Lände in Wien, schlägt mir Misstrauen entgegen, das sich hinter korrektem Verhalten verbirgt. Ich komme eigentlich, um Zeuge einer Abschiebung von Nigerianern und Schwarzafrikanern zu werden, weil diese besonders häufig davon betroffen sind. Daraus wird jedoch nichts, ich werde nur durch das Haus geführt.
Das Gefängnis ist auf meinen Besuch gut vorbereitet, aber auch ich bin nicht ganz ohne Erfahrung. Vor zwanzig Jahren sah ich dort bei einer Recherche keinen einzigen Gefangenen, bis ich sie in zwei parkenden Gefängnisbussen im schmalen Hof und eine weitere große Gruppe hinter einer Gittertür entdeckte. Angeblich waren sie alle beim Duschen. Es macht mich daher auch misstrauisch, dass ich nicht das Polizeigefängnis Hernalser Gürtel zu sehen bekomme.
Foto: Gerhard Roth
Oberst Zinsberger, der Kommandant des renovierten Polizei-Anhaltegefängnisses, erwartet mich in Uniform und zeigt mir in der menschenleeren \"Besucher-Zone\", die umgedrehten gelben Stühle auf den Pulten vor den menschenleeren Kabinen, die Telefone, über die gesprochen wird, und erwähnt die Möglichkeit eines \"Tischbesuches\" mit einem Anwalt. Angehörige bekommen nur am Wochenende die Erlaubnis für einen Besuch, und zwar für eine halbe Stunde. Zuvor würden sie kontrolliert, damit sie nicht \"unerlaubte Substanzen\" in das Gefängnis hineinschmuggelten. Das komme aber leider trotzdem vor. Weibliche Häftlinge dürften ein Kleinkind bis zweieinhalb oder drei Jahre in die Zelle mitnehmen. Die Wartezeit für die Abschiebung betrage im Schnitt 21 bis 22 Tage. Die Haft dürfe aber in einem Zeitraum von zwei Jahren zehn Monate nicht überschreiten, dann müsse der Schubhäftling freigelassen werden. Derzeit seien die beiden Polizeigefängnisse, die 260 Mitarbeiter beschäftigten - Roßauer Lände und Hernalser Gürtel -, mit insgesamt 430 Personen belegt, 70 Prozent der Häftlinge seien in Schubhaft, der Rest sitze eine Verwaltungsstrafe ab. In der \"Liesl\" gebe es 63 Gemeinschafts- und 52 Einzelzellen. Eine Kommission des Menschenrechtsbeirates komme unangemeldet circa einmal im Monat - es gebe \"Auffassungsunterschiede\", bemerkt der Kommandant knapp.
Ich blicke durch die vergitterten Fenster in den trostlosen Hof, wo gerade \"Bewegung im Freien\" durchgeführt wird. Schon von der Sprache her sind die Häftlinge Marionetten, die an Schnüren bewegt werden, sie sind entpersonalisiert, haben Ding-Charakter. Gruppenweise drehen sie im Hof ihre Runden, wohl schwer lassen sich die Eindrücke der Schubhäftlinge mit der Vorstellung, die sie sich von der \"Neuen Welt\" machten, vereinbaren. Eine halbe Stunde am Vormittag und am Nachmittag dürfen sie sich \"im Freien bewegen\". Hat ein Schubhäftling bei seiner Verhaftung eigenes Bargeld bei sich gehabt oder wird ihm welches in das Gefängnis gebracht, darf er bis zu 40 Euro pro Woche für Lebensmittel, Toilettenartikel oder Rauchwaren ausgeben, die es im Gefängnis privat zu kaufen gibt.
Foto: Gerhard Roth
Lesen Sie weiter: \"Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist.\"
Vor der Sanitätsstelle warten vier oder fünf Patienten und ein oder zwei vor dem \"Psychiatrischen Dienst\". Das Gefängnis ist ordentlich geführt und sauber. Wir begegnen jedoch kaum jemandem, auch die Räume des Erkennungsdienstes sind verlassen, als besuchte ich ein vergessenes Polizeimuseum. Es geht wieder um Daktyloskopie, Fotografie und um den Mundhöhlenabstrich für die DNA-Probe. Zwei Stockwerke sind für männliche Häftlinge vorgesehen, das oberste für weibliche. Wir besichtigen das letztere. Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist. Aber natürlich ist es in einem Frauengefängnis sauberer und ruhiger als unter männlichen Häftlingen, und das wird auch der Grund sein, weshalb ich die Männerabteilungen nicht zu Gesicht bekomme.
Foto: Gerhard Roth
In jeder Zelle sind sechs Frauen in drei Stockbetten untergebracht, die Toilette ist abgemauert. Zu meiner Überraschung begegne ich weiblichen Häftlingen, die unbeschwert zusammensitzen, auf dem Bett liegen, Essen ausführen. Offenbar, argwöhne ich, wurde auch unter den weiblichen Häftlingen \"aufgeräumt\". Die Wände neben den Stockbetten sind oft mit Kugelschreibern beschriftet. Die verschiedensten Schriftzeichen und Wörter sind zu erkennen und die verschiedensten Sprachen zu entziffern. Dazwischen kindliche Zeichnungen: ein Sternenhimmel, ein Hase, Berge, Bäume, Herzen, eine Rose. Farbige Aquarelle sind mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Die Betten sind sorgfältig gemacht, Sonnenlicht fällt durch die Gitterstäbe auf den glänzenden Steinboden. Die Mutter-Kind-Zelle ist nicht belegt (und wieder stellt sich Misstrauen ein) - der Wickeltisch, das weiße Gitterbettchen und die Vorstellung, dass Kinder zurück in die Ungewissheit abgeschoben werden, ist überdies bedrückend. Da nützt es auch nichts, dass es einen eigenen Mikrowellenherd, eigene Dusche und einen eigenen Kühlschrank in der Mutter-Kind-Zelle gibt.
Foto: Gerhard Roth
Man bemühe sich auch, erklärt der Kommandant, Mütter mit Kindern rasch, innerhalb von sieben bis 14 Tagen abzuschieben. Der \"Schubtermin\", so der Begriff aus der Marionettentheatersprache, wird erst am Vortag bekannt gegeben. 15 Prozent der Schubhäftlinge, erklärt der Kommandant weiter, würden \"Selbstverletzungen\" an sich vornehmen oder in den Hungerstreik treten, um aus dem Gefängnis herauszukommen. Die Hälfte sei damit \"erfolgreich\", denn sie würden dann ins Krankenhaus gebracht, das nicht bewacht sei und aus dem sie fliehen könnten. Hierauf, so der Kommandant, \"wiederhole sich das Spiel\". Dieser Polizeibegriff fällt mehrmals.
Foto: Gerhard Roth
Lesen Sie weiter: \"Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten.\"
14 Tage später, setzt der Kommandant fort, würde zumeist der Schubhäftling beim Schwarzfahren ertappt, in der Zwischenzeit habe er sich irgendwie durchgehungert - jedenfalls werde er bald wieder festgenommen. Er halte sich ja nach wie vor illegal im Land auf, betont der Kommandant. In der Schubhaft dann würde der Betreffende aber wieder mit dem Hungerstreik beginnen. Solange er sich in der Ausnahmesituation befinde, würde er täglich vom Amtsarzt auf Haftfähigkeit untersucht und möglicherweise wieder ins Krankenhaus gebracht, aus dem er aber wieder fliehe. Entweder tauche er dann eines Tages unter, oder er gebe auf. Habe er sich dazu entschlossen, werde er zur Rückkehrberatung gebracht, wo ein Kontaktgespräch mit \"muttersprachlichem Betreuer\" stattfinde. Sobald man sich geeinigt habe, werde die Rückkehr vollzogen. Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten. Das Geld werde ihm - wenn er keines besitze - vorgestreckt und die Schuld auf 20 Jahre ausgesetzt, das heißt, sie werde fällig, wenn er in diesem Zeitraum wieder einreise. Auf dem Weg zu den Einzelzellen kommen wir an einer geöffneten Tür vorbei, ich trete näher, sehe sechs Frauen, Chinesinnen, Vietnamesinnen und eine Mongolin, wie ich erfahre, beim Kartenspiel. Die aufgeschlagenen Spielkarten liegen auf der grauen Decke, und es erweckt den Eindruck, als handle es sich um eine Zukunftsbefragung.
Foto: Gerhard Roth
In die Einzelzellen kann man auf eigenen Wunsch, strafweise oder zu \"Sicherungsmaßnahmen\" bei einem Selbstmordversuch verlegt werden. Es ist ein abgesonderter, langer Trakt mit spiegelglänzendem steinernem Fußboden. Durch die Türklappen sehe ich einen weiblichen Häftling ein Buch lesen, in einer anderen Zelle schläft eine junge Frau. Man spürt ihre Verlassenheit, ihr Ausgeliefertsein, und obwohl ich schon vieles gesehen habe, gibt es mir im Herz einen Stich. Wir haben noch nicht alles besichtigt. Die Sicherheits- und die Gummizelle sind nicht belegt. Die Sicherheitszelle ist, wie ich sehe, weiß gefliest, die Toilette in den Boden eingelassen, die körperliche Verrichtung erfolgt in hockender Stellung. Die dort \"Verwahrte\" liegt wie ein lebendes Tier in der Auslage eines Fleischhauers und ist den Blicken durch die Luke ausgeliefert.
Die Gummizelle nebenan ist ein grün gepolsterter Raum, in den der \"renitente\" weibliche Häftling gesperrt wird, wenn er \"randaliert\". Wahrscheinlich ist es einer \"durchdrehenden\" Frau nur zu viel geworden an Verfolgung, Überprüfung, Verhaftung, Wegsperrung, Überwachung und Kontrolle, denke ich, wahrscheinlich spürte sie, dass alle Risiken, alles Leid, alles Elend, das sie auf sich genommen hat, um die \"Neue Welt\" zu sehen, umsonst waren, und hat nun sinnlos gegen Gegenstände, Mithäftlinge, Wachpersonal rebelliert. Jedenfalls wird sie in den gepolsterten Schrankraum gesteckt, der leer ist wie das Innere einer aufgestellten Schuhschachtel. Die Fenster zum Hof und das andere über der Tür, das zum Gang hinausführt, sind aus unzerbrechlichem Glas ebenso wie die Verkleidung der Neonröhre an der Decke.
Foto: Gerhard Roth
Irgendwo oben in diesem dunkelgrünen, glänzenden, abgedichteten Raum befindet sich eine Überwachungskamera. Und es gibt auch das Guckloch in der Tür, durch das man in die vier Wände hineinschauen kann. \"Il mondo novo\". Auf dem Gemälde von Tiepolo sind fast alle Menschen nur von hinten zu sehen. Sie haben, wie auch die \"Illegalen\", \"Asylanten\" und ihre Bewacher, kein Gesicht. \"Mondo novo\" bezeichnete eine Jahrmarktsattraktion, den Vorläufer der Laterna Magica, des Panoptikums, der Diaprojektion und des Fernsehens. Vom Posten auf dem spiegelglatten Gang vor den Einzelzellen kann ein Bildschirm kontrolliert werden, in dem ständig die nackte Gummizelle von oben zu sehen ist, ein Blick wie in einen Schlund. Ich starre auf den glatten Bildschirm, der an der Decke des Ganges gut sichtbar befestigt ist und frage den Kommandanten nach der Funktion. Er erlaube, sagt er sachlich, die Beobachtung des eingesperrten weiblichen Häftlings von außen. Der Amtsarzt müsse zwar \"verbindlich\" geholt werden, setzt er fort. Zumeist dauere es aber vier bis fünf Stunden, bis sich die \"Randalierende\" wieder beruhigt habe. Wir starren beide zum Bildschirm hinauf, auf dem sich punktförmig Lichtreflexe spiegeln. Unverändert zeigt er die dunkelgrüne Gummizelle, die von oben jetzt wie ein tiefer Schacht aussieht.
Man setze auf Zeit, sagt der Kommandant.
(Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 23.5.2007)
http://derstandard.at/?id=2891122
Der Schriftsteller Gerhard Roth besucht das Polizeigefängnis Roßauer Lände, in dem Schubhäftlinge auf ihre Abschiebung warten
Auch in der \"Liesl\", dem Polizeigefängnis an der Roßauer Lände in Wien, schlägt mir Misstrauen entgegen, das sich hinter korrektem Verhalten verbirgt. Ich komme eigentlich, um Zeuge einer Abschiebung von Nigerianern und Schwarzafrikanern zu werden, weil diese besonders häufig davon betroffen sind. Daraus wird jedoch nichts, ich werde nur durch das Haus geführt.
Das Gefängnis ist auf meinen Besuch gut vorbereitet, aber auch ich bin nicht ganz ohne Erfahrung. Vor zwanzig Jahren sah ich dort bei einer Recherche keinen einzigen Gefangenen, bis ich sie in zwei parkenden Gefängnisbussen im schmalen Hof und eine weitere große Gruppe hinter einer Gittertür entdeckte. Angeblich waren sie alle beim Duschen. Es macht mich daher auch misstrauisch, dass ich nicht das Polizeigefängnis Hernalser Gürtel zu sehen bekomme.
Foto: Gerhard Roth
Oberst Zinsberger, der Kommandant des renovierten Polizei-Anhaltegefängnisses, erwartet mich in Uniform und zeigt mir in der menschenleeren \"Besucher-Zone\", die umgedrehten gelben Stühle auf den Pulten vor den menschenleeren Kabinen, die Telefone, über die gesprochen wird, und erwähnt die Möglichkeit eines \"Tischbesuches\" mit einem Anwalt. Angehörige bekommen nur am Wochenende die Erlaubnis für einen Besuch, und zwar für eine halbe Stunde. Zuvor würden sie kontrolliert, damit sie nicht \"unerlaubte Substanzen\" in das Gefängnis hineinschmuggelten. Das komme aber leider trotzdem vor. Weibliche Häftlinge dürften ein Kleinkind bis zweieinhalb oder drei Jahre in die Zelle mitnehmen. Die Wartezeit für die Abschiebung betrage im Schnitt 21 bis 22 Tage. Die Haft dürfe aber in einem Zeitraum von zwei Jahren zehn Monate nicht überschreiten, dann müsse der Schubhäftling freigelassen werden. Derzeit seien die beiden Polizeigefängnisse, die 260 Mitarbeiter beschäftigten - Roßauer Lände und Hernalser Gürtel -, mit insgesamt 430 Personen belegt, 70 Prozent der Häftlinge seien in Schubhaft, der Rest sitze eine Verwaltungsstrafe ab. In der \"Liesl\" gebe es 63 Gemeinschafts- und 52 Einzelzellen. Eine Kommission des Menschenrechtsbeirates komme unangemeldet circa einmal im Monat - es gebe \"Auffassungsunterschiede\", bemerkt der Kommandant knapp.
Ich blicke durch die vergitterten Fenster in den trostlosen Hof, wo gerade \"Bewegung im Freien\" durchgeführt wird. Schon von der Sprache her sind die Häftlinge Marionetten, die an Schnüren bewegt werden, sie sind entpersonalisiert, haben Ding-Charakter. Gruppenweise drehen sie im Hof ihre Runden, wohl schwer lassen sich die Eindrücke der Schubhäftlinge mit der Vorstellung, die sie sich von der \"Neuen Welt\" machten, vereinbaren. Eine halbe Stunde am Vormittag und am Nachmittag dürfen sie sich \"im Freien bewegen\". Hat ein Schubhäftling bei seiner Verhaftung eigenes Bargeld bei sich gehabt oder wird ihm welches in das Gefängnis gebracht, darf er bis zu 40 Euro pro Woche für Lebensmittel, Toilettenartikel oder Rauchwaren ausgeben, die es im Gefängnis privat zu kaufen gibt.
Foto: Gerhard Roth
Lesen Sie weiter: \"Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist.\"
Vor der Sanitätsstelle warten vier oder fünf Patienten und ein oder zwei vor dem \"Psychiatrischen Dienst\". Das Gefängnis ist ordentlich geführt und sauber. Wir begegnen jedoch kaum jemandem, auch die Räume des Erkennungsdienstes sind verlassen, als besuchte ich ein vergessenes Polizeimuseum. Es geht wieder um Daktyloskopie, Fotografie und um den Mundhöhlenabstrich für die DNA-Probe. Zwei Stockwerke sind für männliche Häftlinge vorgesehen, das oberste für weibliche. Wir besichtigen das letztere. Der Gedanke, Frauen eingesperrt zu sehen, bedrückt mich noch mehr, als es bei Männern der Fall ist. Aber natürlich ist es in einem Frauengefängnis sauberer und ruhiger als unter männlichen Häftlingen, und das wird auch der Grund sein, weshalb ich die Männerabteilungen nicht zu Gesicht bekomme.
Foto: Gerhard Roth
In jeder Zelle sind sechs Frauen in drei Stockbetten untergebracht, die Toilette ist abgemauert. Zu meiner Überraschung begegne ich weiblichen Häftlingen, die unbeschwert zusammensitzen, auf dem Bett liegen, Essen ausführen. Offenbar, argwöhne ich, wurde auch unter den weiblichen Häftlingen \"aufgeräumt\". Die Wände neben den Stockbetten sind oft mit Kugelschreibern beschriftet. Die verschiedensten Schriftzeichen und Wörter sind zu erkennen und die verschiedensten Sprachen zu entziffern. Dazwischen kindliche Zeichnungen: ein Sternenhimmel, ein Hase, Berge, Bäume, Herzen, eine Rose. Farbige Aquarelle sind mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Die Betten sind sorgfältig gemacht, Sonnenlicht fällt durch die Gitterstäbe auf den glänzenden Steinboden. Die Mutter-Kind-Zelle ist nicht belegt (und wieder stellt sich Misstrauen ein) - der Wickeltisch, das weiße Gitterbettchen und die Vorstellung, dass Kinder zurück in die Ungewissheit abgeschoben werden, ist überdies bedrückend. Da nützt es auch nichts, dass es einen eigenen Mikrowellenherd, eigene Dusche und einen eigenen Kühlschrank in der Mutter-Kind-Zelle gibt.
Foto: Gerhard Roth
Man bemühe sich auch, erklärt der Kommandant, Mütter mit Kindern rasch, innerhalb von sieben bis 14 Tagen abzuschieben. Der \"Schubtermin\", so der Begriff aus der Marionettentheatersprache, wird erst am Vortag bekannt gegeben. 15 Prozent der Schubhäftlinge, erklärt der Kommandant weiter, würden \"Selbstverletzungen\" an sich vornehmen oder in den Hungerstreik treten, um aus dem Gefängnis herauszukommen. Die Hälfte sei damit \"erfolgreich\", denn sie würden dann ins Krankenhaus gebracht, das nicht bewacht sei und aus dem sie fliehen könnten. Hierauf, so der Kommandant, \"wiederhole sich das Spiel\". Dieser Polizeibegriff fällt mehrmals.
Foto: Gerhard Roth
Lesen Sie weiter: \"Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten.\"
14 Tage später, setzt der Kommandant fort, würde zumeist der Schubhäftling beim Schwarzfahren ertappt, in der Zwischenzeit habe er sich irgendwie durchgehungert - jedenfalls werde er bald wieder festgenommen. Er halte sich ja nach wie vor illegal im Land auf, betont der Kommandant. In der Schubhaft dann würde der Betreffende aber wieder mit dem Hungerstreik beginnen. Solange er sich in der Ausnahmesituation befinde, würde er täglich vom Amtsarzt auf Haftfähigkeit untersucht und möglicherweise wieder ins Krankenhaus gebracht, aus dem er aber wieder fliehe. Entweder tauche er dann eines Tages unter, oder er gebe auf. Habe er sich dazu entschlossen, werde er zur Rückkehrberatung gebracht, wo ein Kontaktgespräch mit \"muttersprachlichem Betreuer\" stattfinde. Sobald man sich geeinigt habe, werde die Rückkehr vollzogen. Das Ticket müsse jedoch der Abgeschobene selbst bezahlen, außerdem 28 Euro pro Hafttag und die Dolmetscherkosten. Das Geld werde ihm - wenn er keines besitze - vorgestreckt und die Schuld auf 20 Jahre ausgesetzt, das heißt, sie werde fällig, wenn er in diesem Zeitraum wieder einreise. Auf dem Weg zu den Einzelzellen kommen wir an einer geöffneten Tür vorbei, ich trete näher, sehe sechs Frauen, Chinesinnen, Vietnamesinnen und eine Mongolin, wie ich erfahre, beim Kartenspiel. Die aufgeschlagenen Spielkarten liegen auf der grauen Decke, und es erweckt den Eindruck, als handle es sich um eine Zukunftsbefragung.
Foto: Gerhard Roth
In die Einzelzellen kann man auf eigenen Wunsch, strafweise oder zu \"Sicherungsmaßnahmen\" bei einem Selbstmordversuch verlegt werden. Es ist ein abgesonderter, langer Trakt mit spiegelglänzendem steinernem Fußboden. Durch die Türklappen sehe ich einen weiblichen Häftling ein Buch lesen, in einer anderen Zelle schläft eine junge Frau. Man spürt ihre Verlassenheit, ihr Ausgeliefertsein, und obwohl ich schon vieles gesehen habe, gibt es mir im Herz einen Stich. Wir haben noch nicht alles besichtigt. Die Sicherheits- und die Gummizelle sind nicht belegt. Die Sicherheitszelle ist, wie ich sehe, weiß gefliest, die Toilette in den Boden eingelassen, die körperliche Verrichtung erfolgt in hockender Stellung. Die dort \"Verwahrte\" liegt wie ein lebendes Tier in der Auslage eines Fleischhauers und ist den Blicken durch die Luke ausgeliefert.
Die Gummizelle nebenan ist ein grün gepolsterter Raum, in den der \"renitente\" weibliche Häftling gesperrt wird, wenn er \"randaliert\". Wahrscheinlich ist es einer \"durchdrehenden\" Frau nur zu viel geworden an Verfolgung, Überprüfung, Verhaftung, Wegsperrung, Überwachung und Kontrolle, denke ich, wahrscheinlich spürte sie, dass alle Risiken, alles Leid, alles Elend, das sie auf sich genommen hat, um die \"Neue Welt\" zu sehen, umsonst waren, und hat nun sinnlos gegen Gegenstände, Mithäftlinge, Wachpersonal rebelliert. Jedenfalls wird sie in den gepolsterten Schrankraum gesteckt, der leer ist wie das Innere einer aufgestellten Schuhschachtel. Die Fenster zum Hof und das andere über der Tür, das zum Gang hinausführt, sind aus unzerbrechlichem Glas ebenso wie die Verkleidung der Neonröhre an der Decke.
Foto: Gerhard Roth
Irgendwo oben in diesem dunkelgrünen, glänzenden, abgedichteten Raum befindet sich eine Überwachungskamera. Und es gibt auch das Guckloch in der Tür, durch das man in die vier Wände hineinschauen kann. \"Il mondo novo\". Auf dem Gemälde von Tiepolo sind fast alle Menschen nur von hinten zu sehen. Sie haben, wie auch die \"Illegalen\", \"Asylanten\" und ihre Bewacher, kein Gesicht. \"Mondo novo\" bezeichnete eine Jahrmarktsattraktion, den Vorläufer der Laterna Magica, des Panoptikums, der Diaprojektion und des Fernsehens. Vom Posten auf dem spiegelglatten Gang vor den Einzelzellen kann ein Bildschirm kontrolliert werden, in dem ständig die nackte Gummizelle von oben zu sehen ist, ein Blick wie in einen Schlund. Ich starre auf den glatten Bildschirm, der an der Decke des Ganges gut sichtbar befestigt ist und frage den Kommandanten nach der Funktion. Er erlaube, sagt er sachlich, die Beobachtung des eingesperrten weiblichen Häftlings von außen. Der Amtsarzt müsse zwar \"verbindlich\" geholt werden, setzt er fort. Zumeist dauere es aber vier bis fünf Stunden, bis sich die \"Randalierende\" wieder beruhigt habe. Wir starren beide zum Bildschirm hinauf, auf dem sich punktförmig Lichtreflexe spiegeln. Unverändert zeigt er die dunkelgrüne Gummizelle, die von oben jetzt wie ein tiefer Schacht aussieht.
Man setze auf Zeit, sagt der Kommandant.
(Gerhard Roth/DER STANDARD-Printausgabe, 23.5.2007)
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